Der Fleiß ist ein Beürfnis und eine natürliche Tugend kräftiger Persönlichkeiten: sie haben so viel zu erfassen, umzubilden, auszudrücken, daß ihnen jede Stunde kostbar und das längste Leben zu kurz erscheint. "Ars longa, vivat brevis" ist ihre Klage von altersher. Wer seine Persönlichkeit schätzt, hält seine Zeit wert und heilig. Goethe war also zeitgeizig. Er verglich gern die Zeit mit Geld und Gut; hinterließ ihm der irdische Vater 10 000 Gulden, so gab ihm der Schöpfer aller Dinge eine viel reichere Fülle von verwertbaren Lebensstunden:
"Er wußte sie wie Keiner zu nutzen, wahrhaft auszubeuten" urteilte der Kanzler v. Müller, der uns auch den kleinen Zug erzählt, daß Goethe sich aus einem Gespräch mit dem König von Bayern einen Augenblick fortstahl, weil ihm ein Gedanke für die Fortsetzung der Faustdichtung gekommen war, der aufgeschrieben werden mußte. Tage völliger Muße kannte Goethe nicht; Sonn- und Feiertage waren von Werktagen nur wenig verschieden. Von seinem Neffen Rinaldo Vulpius, der ihm einen Brief von Jena nach Weimar mitnahm, schreibt er im Mai 1818: |
Selbst wenn er noch im Bette liegen wollte, begann er schon mit dem geistigen Schaffen. Da es ihn schmerzte, daß Schiller durch eine ungeschickte, ungesunde Lebensweise manche gute Stunde verlor, so gibt er ihm im Dezember einen Wink:
An denselben Freund schreibt er:
Goethe hat in der Tat recht viele Verse beim Halten der Postkutsche oder des eigenen Reisewagens oder an Gasthoftischen niedergeschrieben. Auch in Bade- und Kurorten verging kein Tag ohne Studium oder Hervorbringung; in Wiesbaden arbeitete er im Juni 1815 sogar 16 bis 17 Stunden täglich an der 'Italienischen Reise' und diktierte auch in der Badewanne. * * * |
Wer seine Zeit schätzt und seine noch ungetane Arbeit bedenkt, hütet sich vor aller Teilnahme an Bestrebungen und Arbeiten, auf deren glückliches Gelingen er nur geringen oder gar keinen Einfluß hat. Schon aus diesem Grunde war Goethe kein Politiker. Das kollegiale und erst recht das parlamentarische Arbeiten für den Staat erkannte er als eine ungeheuere Zeit- und Kraftvergeudung. Es werde immer das Minimum von Effekt hervorgebracht, wenn man mit Andern und durch Andere zu wirken hat, sagte er zu Riemer, und zum Kanzler: "Ich konnte nie zu Zwei etwas leisten; Diktatur oder Konsulat mit geteilter Gewalt!" Und schon 1797 schrieb er an Heinrich Meyer:
Goethe bekam zwar immer einige Zeitungen in's Haus, aber oft las er sie Monate hindurch nicht. Nicht selten war er in die politischen Vorgänge durch seine Stellung oder seine Freunde besser eingeweiht als die Berichterstatter dieser Blätter, und dann entrüstete er (ai) Penelope war eine von den mythischen Heldinnen, deren Schönheit mehr den Charakter als die Person betraf. Sie war die Tochter von Ikarius, einen Spartaner Prinzen. Odysseus, der König von Ithaka, wollte sie gern heiraten und gewann sie auch, trotz zahlreicher Verehrer. Als der Moment gekommen war, als die Braut das Haus des Vaters verlassen mußte, Ikarius, unfähig den Gedanken zu ertragen, daß er sich von seiner Tochter trennen muß, versuchte sie zu überzeugen bei ihm zu bleiben und nicht ihren Mann nach Ithaka zu begleiten. Odysseus gab Penelope die Wahl, zu bleiben oder mit ihm zu gehen. Penelope gab keine Antwort, aber warf sich den Schleier über das Gesicht. |
sich über ihr leichtfertiges Umspringen mit der Wahrheit und mit den Gefühlen der an die Öffentlichkeit gezerrten Personen. Immer aber fürchtete er Zeit- und Stimmungsräuber in ihnen. An Zelter schreibt er einmal:
Im Jahre 1831 machte er sich den Spaß, eine Zeitung von 1826 gebunden zu lesen. Bei solcher Wiederholung wird "für den Menschen, der sich in den Kreis seiner Tätikgkeit zurückzieht," erst recht klar, "daß man durch diese Tagesblätter zum Narren gehalten wurde, und daß weder für uns, noch für die Unsrigen, besonders im Sinn einer höheren Bildung, daher auch nicht das Mindeste abzuleiten war." * * * Die 'Gesellschaft' und die 'Geselligkeit' sind zwei Namen für ärgste Zeiträuber und Persönlichkeitsvernichter. Goethe wußte ihnen von Jugend auf zu begegnen. Nahm er an einer Gesellschaft teil, so behauptete er sich ihr gegenüber; er spielte nicht Karten und verwickelte sich nicht in Klatsch, sondern setzte auch hier sein Studium fort und befestigte sich lehrend im Gelernten. Zeichnen, Musikhören, Betrachten von Mineralien oder Medaillen oder Kupferstichen, Vorlesen, Lesen mit verteilten Rollen, Schilderungen von |
fremden Ländern: Das waren seine Unterhaltungen in geselligen Stunden. Auch Lustigsein, Trinken, Tanzen und allerlei Possenspiel ließ er als gute Zeitnutzung gelten. Aber er war für sich allein zu reich, um häufiger Gesellschaft zu bedürfen oder sie ertragen zu können. "Die Menschen sind wie das Rote Meer" sagte er einmal, "der Stab hat sie kaum auseinander gehalten, gleich hinterher fließen sie wieder zusammen." Zu diesen Menschen gehörte Goethe nicht. "Ich weiß wohl" sagte er schon 1784, "daß man, um die Dehors zu salvieren, das Dedans zugrunde richten soll (ai); aber ich kann mich denn doch nicht wohl dazu verstehen." Als er drei Jahre später nach Rom kam, vermied er sorgfältig alle vornehmen Bekanntschaften und hielt sich zu guten Kameraden, die ihn nicht mit gesellschaftlichen Pflichten behängten. Als seine Anwesenheit dennoch bekannt wurde und er Einladungen und Besuche bekam, hatte er sich schon im Kreise der "Künstlerburschen" befestigt. "Jedem war es nicht um mich zu tun" schreibt er über die vornehmen Einladenden an Herder, "sondern nur: seine Partei zu verstärken. Als Instrument wollten sie mich brauchen, und wenn ich hätte hervorgehen, mich deklarieren wollen, hätte ich auch als Phantom eine Rolle gespielt. Nun, da sie sehen, daß nichts mit mir anzufangen ist, lassen sie mich gehen, und ich mache meinen sicheren Weg fort." So lernte er freilich die römischen Kardinäle und Prinzessinnen nicht kennen, aber er hatte Zeit und Raum, die 'Iphigenie' umzuschreiben, den 'Egmont' und 'Tasso' (ai) Dehors, Plural, franz., äußerer Schein; gesellschaftlicher Anstand; dedans, franz., innen, darin; salvieren, retten, in Sicherheit bringen (außen hui, innen pfui). |
zu fördern, in die Geheimnisse der bildenden Kunst einzudringen und nebenbei mit fröhlichen Gesellen vergnügt zu leben. * * * Man kann sich keinen größeren Gegensatz denken als Goethe und die Frau v. Staël, (ai) die doch auch Dichterin und Denkerin sein wollte. Ihr war nur in Gesellschaft wohl; sie mußte stets der Mittelpunkt lauten Lebens sein; ihr herrliches Landgut bei Genf empfand sie als einen düstern Ort der Verbannung, weil Napolen ihr den Aufenthalt in Paris verboten hatte. Als sie 1804 nach Weimar kam, empfanden Goethe und Schiller ihre gesellschaftlichen Ansprüche recht unbequem, obwohl die geistreiche Französin auch sie nicht kalt ließ. Goethe erzählt in seinen Annalen, wie ihre Salongeschäftigkeit mit dem ernsten Schaffen der deutschen Dichter und Gelehrten im Gesatz war.
Auch zeigte gerade die Staël manche Oberflächlichkeit, wie sie die Geselligkeit anerzieht. Goethe erzählt weiter:
(ai) Anne Louise Germaine Baronin von Staël-Holstein, bekannt als Madame de Staël, 1766 - 1817, galt die als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des französischen Geisteslebens ihrer Zeit und als Wegbereiterin der romantischen Bewegung. Von 1786 - 1802 versammelte sie in ihrem Salon in der Rue de Bac durch ihre große Anziehungskraft, Intelligenz und Redegewandtheit die liberale Aristokratie und die Elite der Politiker von morgen. In den Jahren während und nach der Französischen Revolution machte sich Germaine durch ihre Offenheit viele Feinde; ihr erbittertster Gegner wurde Napoleon Bonaparte. 1802 verbannte Napoleon sie aus Paris. Sie zog zum Vater in die Schweiz, bei dem auch ihre drei Kinder aufwuchsen. Ihr Salon in Coppet am Genfer See wurde zum Zentrum der intellektuellen Geselligkeit und des internationalen Kulturaustauschs. |
So hütete sich Goethe immer vor Angriffen auf sein Gemütsleben; zur Unterhaltung bedurfte er der Erschütterungen nicht, und seiner Arbeit waren sie schädlich. Da er nun einmal weich und empfindlich war, so schonte er sich demgemäß. In Tollhäuser, die jammervollen Vorläufer unserer heutigen Anstalten für Geisteskranke, konnte ihn auch sein Herzog nicht einzutreten bewegen. Ebenso ging er den Leichen aus dem Wege. "Warum" sagte er bei Wielands Tode zu Falk, "warum soll ich mir die lieblichen Eindrücke von den Gesichtszügen meiner Freunde und Freundinnen durch die Entstellungen einer Maske zerstören lassen? Es wird ja dadurch etwas Fremdartiges, ja völlig Unwahres meiner Einbildungskrauft aufgedrungen. Ich habe mich wohl in acht genommen, weder Herder, Schiller, noch die verwitwete Frau Herzogin Amalia im Sarge zu sehen. (ai) maussade, lat. franz., mürrisch, verdrießlich |
Der Tod ist ein sehr mittelmäßiger Proträtmaler. Ich will ein seelenvolleres Bild als seine Masken von meinen Freunden im Gedächtnis aufbewahren." Auch auf Bildern ließ er sich nichts Widerliches bieten. Sie sollten ihm Angenehmes sagen und ihn nicht an die Anatomie oder den Schindanger (ai) erinnern. Vor frommen Bildern hatte er auch deshalb Scheu, weil sie so oft Menschenquälerei darstellen. Ebenso schonte er seine Phantasie gegen die verwirrenden Eindrücke der Karikaturen. So wollte er im Alter keine Spottbilder auf Napoleon sehen. "Ich darf mir dergleichen widrige Eindrücke nicht erlauben, denn in meinem Alter stellt sich das Gemüt, wenn es angegriffen wird, nicht so schnell wieder her wie bei Euch Jüngeren." Als seine Schwiegertochter bei einem Sturze sich das Gesicht zerschunden hatte, sah er sie nicht, bis sie wiederhergestellt war. Genau so wandte er die Augen ab von politischen Vorgängen, die ihn sehr ergriffen und innerlich beschäftigt hätten, ohne daß er doch Etwas dazu tun konnte, also besonders von Kriegsereignissen und Revolutionen. Seine anscheinende Gleichgültigkeit erregte dann oft Erstaunen und Mißfallen; aber er wußte, weshalb er so handelte. Gleich nach den Befreiungskriegen entstanden in den meisten deutschen Ländern sehr unerquickliche Zustände; zwischen den Volksgenossen zeigte sich ein politischer Haß, der zu schlimmen Taten führte. "Ungerechtigkeit und Unbilligkeit sind an der Tagesordnung" schrieb Goethe damals (am 16. Januar 1818 an Antonie Brentano) (bi) und fuhr fort: (ai) Schindanger, Platz, wo Tiere abgehäutet werden |
* * * Oft mußte Goethe alle Gesellschaft meiden und sich selbst von Frau und Kind abschließen, wenn er Etwas fertig bringen wollte.
Gewöhnlich entwich Goethe auf Wochen oder Monate nach dem damals noch recht kleinen Jena; seltener zog er in's Gartenhaus, wo ihn dann die Seinigen nicht stören durften. "Denn dabei bleibt es nun einmal: daß ich ohne absolute Einsamkeit nicht das Mindeste hervorbringen kann. Die Stille des Gartens ist mir auch daher vorzüglich schätzbar." So schreibt er im August 1799 an Schiller, und drei Tage später (ai) Diogenes aus Sinope, geboren 412 v. Chr., gestorben 323 v. Chr.; Diogenes, der zu den Kynikern (Philosophen der Bedürfnislosigkeit) gezählt wird, entsagte jeglichen Errungenschaften der Zivilisation und praktizierte so die Autarkie (Sich-selbst-genug-sein) in reinster Form. Eine überlieferte Anekdote erzählt, daß einst Alexander der Große an sein Zuhause, ein Faß, herantrat und fragte, ob er ihm einen Wunsch erfüllen könne, woraufhin Diogenes nur erwiderte, dass er ihm aus der Sonne gehen solle. |
heißt es schon wieder: "Denn in einer so absoluten Einsamkeit, wo man durch gar nichts zerstreut und auf sich selbst gestellt ist, fühlt man erst recht und lernt begreifen, wie lang ein Tag sei." Wohl hatte Christiane oft große Sehnsucht nach ihm, und die kurzen Besuche, die ihr gestattet waren, erschienen ihr als allzu seltene Festtage. Dann schrieb sie ihm wohl:
Aber sie fügte sich auch willig, wenn er in seiner freundlichen Weise ihr meldete, daß die gesetzte Aufgabe noch nicht bewältigt sei, und unverdrossen sorgte sie dann, was sie an guten Speisen und Getränken für ihn den Botenweibern mitgeben könne. * * * (ai) nolens volens, lat.; wohl oder übel |
nur flüchtig erwidern wollte." Schon in jungen Jahren kam er zu dem Vorsatz, eine große Zahl von Briefen nicht zu beantworten. Der ihm befreundete Statthalter Karl v. Dalberg in Erfurt, der nachmalige Großherzog von Frankfurt, bekam eine Unmenge literarischer Zusendungen, weil er als ein sehr wohlwollender Liebhaber vieler Wissenschaften und Künste bekannt war. In einem Briefe an Zelter erzählt Goethe von diesem alten Freunde:
* * * Die Absonderung von den Menschen um des Werkes willen zeigte sich bei Goethe auch oft als Verschwiegenheit und Heimlichtun. Der Kanzler erzählt: (ai)Zelebrität, die; Berühmtheit |
Goethe spricht diese Sinnesart öfters in seinen Gedichten aus. Sein Märchen vom getreuen Eckhart schließt: "Verplaudern ist schädlich, verschweigen ist gut: dann füllt sich das Bier in den Krügen." In den 'Römischen Elegien' erhebt er die Verschwiegenheit gar in den Rang der Götter:
Und in der 'Natürlichen Tochter' wiederholt er:
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Gern erzählte Goethe, wie er in Jena die Universitätsbibliothek in Ordnung gebracht habe. (1) Sie befand sich in einem entsetzlichen, feuchten und beschränkten Raume. Goethe, mit Vollmacht von den Erhalter-Fürsten ausgestattet, machte den Professoren den Vorschlag, ihm den an die Bibliothek anstoßenden Konferenzsaal der medizinischen Fakultät zu überlassen, damit er die bisherige Bibliothek besser unterbringen und auch die vom Großherzog geschenkten 13 000 Bände hinzufügen könnte. Man lehnt ab, verlangt als Ersatz einen neuen Saal, der zwar versprochen, aber nicht sofort erbaut werden kann. Das bloße Versprechen will dem akademischen Kollegium nicht genügen; der verlangte Saal wird verschlossen, und der Schlüssel "läßt sich nicht finden." Nun läßt Goethe einen Maurer in die alte Bibliothek kommen und sagt ihm: "Die Scheidewand da muß stark sein, denn sie trennt zwei Quartiere voneinander. Machen Sie sich einmal daran, mein Freund, dies zu untersuchen." Der Maurer legt Hand an; bald ist der Putz weggestoßen; eine leichte Ziegelwand wird sichtbar. Dann entsteht ein Loch, wodurch man die alten Gemälde des Konferenzsaales: Gelehrte in großen Perücken, schon erblicken kann. "Nur weiter, mein Freund!" sagt Goethe, "ich sehe noch nicht deutlich genug." Das Loch wird größer. "Immer noch ein wenig! Genieren Sie sich ja nicht! Tun Sie, als ob Sie zu Hause wären." Der Maurer schlägt weiter ein, und bald ist die Öffnung so, daß sie (1) Das Folgende nach Sorets (ai) Bericht. |
als Tür gelten kann. Nun dringen die Bibliothekare hindurch und werfen die Bücher auf den Fußboden des eroberten Saales, als Zeichen der Besitzergreifung. Im Handumdrehen sind Bänke, Pulte, Stühle, Gemälde weggeräumt; nach ein paar Tagen stehen ein paar tausend Bücher in ihren Regalen. Ganz verblüfft erscheinen die Professoren an der Tür des neuen Bibliotheksaales, als sie endlich erfahren, was hier vorgegangen ist. Sie schelten und zürnen und - fügen sich in's Geschehene. Poetisches und wissenschaftliches Schaffen ist von solchem politischen Handeln grundverschieden, aber auch als Dichter war Goethe für größte Heimlichkeit. Er wunderte sich, daß Schiller seine entstehenden Werke mit ihm so gern durchsprach, oft Szene für Szene eines Dramas. Solches Offenbaren unfertiger Dichtung sei ganz gegen seine Natur gewesen, sagte Goethe zu Eckermann: "Ich trug Alles still mit mir herum, und Niemand erfuhr in der Regel Etwas, als bis es vollendet war." Aber Goethe sagte doch auch über seine poetischen Werke: "Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, und besonders nicht, daß er allein arbeite; vielmehr bedarf er der Teilnahme und Anregung, wenn Etwas gelingen soll." Er bedurfte der Anregung von außen, um seine Träume niederzuschreiben; er empfand es auch als große Förderung, wenn Kenner wie Herder, Wieland und Schiller seine fertigen Werke durchgingen und lobten und tadelten; aber im eigentlichen Dichten, im ersten Schaffen, hätte der beste Helfer und Ratgeber ihn nur gestört und ver- |
wirrt. Sein Schaffen war ein unbewußtes, nachtwandlerisches; er trug seine Gestalten und Geschichten of jahrelang im Geiste herum; "als anmutige Bilder, als schöne Träume, die kamen und gingen, und womit die Phantasie mich spielend beglückte." Wenn sie ganz durchlebt waren, standen sie dann auch rasch auf dem Papiere. "Während wir Andern", schrieb Schiller an Heinrich Meyer, "mühselig sammeln und prüfen müssen, um etwas Leidliches langsam hervorzubringen, darf er nur leis an dem Baum schütteln, um sich die schönsten Früchte, reif und schwer, zufallen zu lassen." Bei wissenschaftlichen Arbeiten ist dagegen viel mehr Geselligkeit nötig und gegenseitige Unterstützung unentbehrlich, zumal wenn man, wie der alte Goethe, große Stücke der Welt übersehen und recht viel Wissensstoff verarbeiten möchte. Um der Wissenschaft willen trat er mit vielen Menschen verschiedenster Berufsart und Landsmannschaft in Verkehr.
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Goethes Briefwechsel im Alter ist denn auch vorwiegend ein wissenschaftlicher, und seine Altersfreunde bildeten um ihn herum eine Haus-Akademie der Wissenschaften * * * Um noch einmal zur Poesie zurückzukehren, so war Goethe geradezu der Meinung, daß Schiller sich durch seine Arbeitsart getötet habe. Zu Conta (ai) sagte er 1820: "Ich behauptete immer, der Dichter dürfe nicht eher an's Werk gehen, als bis er einen unwiderstehlichen Drang zum Dichten fühle . . . Schiller dagegen wollte Das nicht gelten lassen. Er behauptete, der Mensch müsse können, was er wolle, und nach dieser Manier verfuhr er auch." Manchmal warnte Goethe in seiner vorsichtigen Weise den Freund: "Ich fürchtete, die Musen niemals wiederzusehen" schreibt er 1798 an Schiller, "wenn man nicht aus Erfahrung wüßte, daß diese gutherzigen Mädchen selbst das Stündchen abpassen, um ihren Freunden mit immer gleicher Liebe zu begegnen." (1) Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt 1793 |
Der Gedanke, daß man ohne Stimmung und Neigung nichts Tüchtiges hervorbringen kann, läßt sich auch dahin erweitern, daß wir uns bemühen sollen, die vorgesetzte Arbeit zu lieben; zuweilen kann man Das ja erreichen. In einem Briefe an Zelter (ai) spricht Goethe von einer neuen Bühnenbearbeitung des 'Götz':
* * * Manche Dichter brauchen starken Kaffee oder Wein, um die Stimmung zu erzwingen. Goethe spottete gegen Schiller über Jean Paul (ci), der nur Kaffee zu trinken brauche, "um so gerade von heiler Haut Sachen zu schreiben, worüber die Christenheit sich entzückte." Und wenn er um dieselbe Zeit von sich selber sagte, er könne sechs Monate seine Arbeit voraussagen, weil er sich durch eine gescheidte leibliche Diät vorbereite, so war Das kein Selbstlob, sondern ein verhüllte Mahnung an den Zuhörer, nämlich eben an Jean Paul: er möge doch seine Lebenweise im Essen und Trinken einer nötigen Prüfung unterziehen. (ai) Carl Friedrich Zelter, geb. 1758, gest. 1832, Berliner Maurermeister, Musiker, Dirigent, Komponist, 1809 Professor der Musik an der Berliner Akademie der schönen Künste, stand seit 1799 mit Goethe in Verbindung. |
Ausführlich behandelte Goethe dieses wichtige Thema der Reizmittel zu geistiger Arbeit im März 1828 in einem Gespräche mit Eckermann. Dieser fragte: "Gibt es denn kein Mittel, um eine produktive Stimmung hervorzubringen oder zu steigern?" und Goethe erwiderte:
Goethe zeigte nun diesen Unterschied der mehr göttlichen und der mehr menschlichen Produktivität am 'Hamlet'; gerade dessen Dichter machte ihm so recht den Eindruck eines gesunden, vollkräftigen Menschen, der jederzeit eine frühere geniale Eingebung im einzelnen und kleinen verwerten konnte. Dann schienen seine Gedanken von Shakespeare auf Schiller überzufließen. |
Eckermann warf ein, daß er vom Weine doch eine bessere Meinung habe; mindestens führe sein Genuß zu Entschlüssen, und Das sei doch auch eine Art Produktivität. Da mußte Goethe an seine Verse im 'Divan' denken: "Wenn man getrunken hat, weiß man das Rechte," aber sogleich kam er doch auf die wahren, großen Ernährer des Geistes zu sprechen:
(ai) Lord George Gordon Noel Byron, englischer Dichter, geboren 1788 in London, gestorben 1824 in Griechenland; verlebte Byron eine unglückliche Kindheit. Nach Antritt einer Erbschaft studierte er in Harrow und Cambridge. Anschließend unternahm er Reisen nach Spanien und Portugal und auf den Balkan. |
Ein andermal tadelte Goethe seines großen Freundes Arbeitsart noch schärfer:
* * * Als Dichter mußte Goethe oft untätig sein; er konnte und wollte nicht der Aufforderung seines Theaterdirektors folgen: "Gebt ihr euch einmal für Poeten, So kommandiert die Poesie!" Aber deshalb brauchte er keine einzige Stunde zu verlieren: er war ja auch Gelehrter, Verwaltungsmann und Freund seiner Freunde.
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Die große Ordnung, auf die er streng hielt, das Planvolle in seinen Arbeiten war ein ferneres wichtiges Mittel, wodurch er sich vor Zeitverlust schützte. Jahre oder Jahrzehnte hindurch sammelte er Material für zukünftige Schriften. Als Knebel (ai) über Lukrez (bi) schrieb, beklagte es Goethe, daß der alte Freund keine Kollektionen, keine Akten darüber habe; darum sei es ihm schwer, produktiv und positiv zu sein. "Da habe ich ganz anders gesammelt, Stöße von Exzerpten und Notizen über jeden Lieblingsgegenstand!" Für jede Arbeit entwarf er ferner eine sorgfältige Disposition, überdachte die Hauptteile und Unterabteilungen, sammelte dann für die einzelnen Kapitel Tatsachen und Gedanken; so konnte er bald an diesem, bald an jenem Teile des Werkes schreiben, je nachdem er aufgelegt war, und so kamen ihm seine Vorarbeiten oft nach Jahrzehnten noch zugute.
So schreibt er selber an Schiller im Mai 1798, und der Kanzler urteilte nach seinem Tode, seine Ordnungsliebe sei fast bis in's Unglaubliche gegangen.
(1) F. v. Müller in der Erfurter Rede |
Selbst die Zeitungen, die er las, wurden aktenmäßig geheftet. Wichtiger als dieses Sammeln und Einordnen ist die Ordnung und Beherrschung der Arbeitsstoffe durch fleißiges Bedenken. In Goethes Tagebüchern lesen wir neben andern Tätigkeiten oft: "Das Vorliegende durchdacht" oder "das Jüngstvergangene überdacht" oder "Überlegung des Gegenwärtigen" oder nach einem wichtigeren Ereignis: "Betrachtungen darüber." So handelte er nach seiner Lebenregel: "Tun und Denken, Denken und Tun" und ging nicht unter in den Massen, die auf ihn eindrangen. * * * Schnellen Erfolgen jagte Goethe nicht nach, auf Anerkennung konnte er warten, und der Menge zu gefallen, war nie sein Bestreben. So hielt er es z. B. bei den ihm unterstellten Sammlungen und Schulen in Weimar, Jena und Eisenach.
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Oft hat er die 'Folge', d. h. die Beständigkeit und Konsequenz im Arbeiten, gerühmt: sie könne auch vom Kleinsten angewendet werden, sie verfehle ihr Ziel selten, da ihre stille Macht im Laufe der Zeit unaufhaltsam wachse; wo man nicht mit Folge wirken könne, sei es geratener, gar nicht anzufangen. Er legte darum großen Wert darauf, daß man ihn als treuen Arbeiter schätze und nicht etwa seiner Genialität zuschreibe, was er durch Fleiß erworben. In seinen alten Tagen wurde er gewahr, daß namentlich im Auslande die Ansicht verbreitet war: er, der Poet, habe sich einen Augenblick von seinem Wege ab- und der Botanik zugewendet und sogleich hochbedeutende Entdeckungen über die Gesetze der Planzenbildung gemacht. Um dieser Meinung entgegenzutreten, verfaßte er alsbald einen Aufsatz, in dem er ausführte, wie viele Jahre er in Botanik studiert habe, und er betonte, daß es dem wissenschaftlichen Bestreben schädlich sei, wenn man einen falschen Glauben an Geistesblitze von (1) F. v. Müller in der Erfurter Rede. |
Dilettanten verbreite. "Nicht also durch eine außerordentliche Gabe des Geistes, nicht durch eine momentane Inspiration, noch unvermutet und auf einmal, sondern durch folgerechtes Bemühen bin ich endlich zu einem so erfreulichen Resultate gelangt." * * * Auch in kleinen und äußerlichen Dingen zwang Goethe sich und Andere zum langsamen, sorgfältigen Arbeiten.
Damit die Korrekturen in seinen Manuskripten in der reinlichsten und deutlichsten Weise geschehen konnten, hatte er einen Topf mit Kleister und Pinsel in der Nähe, um an solchen Stellen, wo ihm der Ausdruck nicht mehr gefiel, die Handschrift mit Stückchen neuen Papiers zu überkleben. So berichtet Eckermann, und Carus (ai) in Dresden erzählt:
(1) F. v. Müller in der Erfurter Rede. |
* * * Die Solidität und Gewissenhaftigkeit, die wir an Goethes Arbeit immer wieder wahrnehmen, bedeutet sehr oft auch Begrenzung der schönsten Vorsätze, Verkleinerung der Ideale, Verzicht auf manchen genialen Traum.
Wir staunen, wieviel Goethe als Dichter, Gelehrter, Staatsdiener ausgeführt hat; aber es ließe sich leicht beweisen, daß er noch viel mehr Pläne nur ausgedacht und begonnen hat, daß er viele seiner besten Einfälle absterben ließ, um die übernommenen Pflichten getreulich zu erfüllen. Als Dichter hat er uns von groß angelegten Werken mehr Anfänge hinterlassen als fertige Stücke. Als Staatsmann dachte auch er sich große soziale oder wirtschaftliche oder pädagogische Verbesserungen aus. In praxi aber widmete er dann seine Stunden einem Wegebau, einer Uferbefestigung, einer (1) Daß mit dieser weitgehenden Ordnung auch einige Unordnung verbunden war, ist schon S. 33 angedeutet. Gerade in der Studierstube, in der er zumeist lebte, findet man heute, wie bei seinem Scheiden, das Mannigfaltigste unter- und nebeneinander; die Bücher sind wie vom Zufall hier und dort aufgestellt und auch wie vom Zufall ausgesucht. W. v. Oettingen schildert es genauer; vgl. Stunden mit Goethe 8, S. 217. |
militärischer Aushebung, einer Verbesserung der Universitätsbiblithek oder was sonst zunächst getan werden mußte. So trug er die Last des Tages, statt den großen Reformator zu spielen. In der 'Achillëis' und im 'Faust' hat er uns gestanden, was ihm als das lockendeste oder befriedigenste Menschenwerk erschien: wie der große Quäker William Penn (ai) als Kolonisator auf junfräulichem Boden ein neues Gemeinwesen schaffen, "auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!" Das ist herrlicher, als was der junge Held Achilles vollbrachte, der hingerissen wurde, ehe er zum ruhigen, schaffenden Manne reifte. Denn:
"Wären wir zwanzig Jahre jünger!" sprach Goethe wohl zu Meyer, wenn ihn solche Tagesträume beschlichen, und wandte sich wieder der Arbeit zu, die das größte Recht auf ihn hatte. * * * (ai) Penn, William, englischer Quäker, Gründer von Pennsylvania, geb. London 1644, gest. Ruscombe 1718; erwarb 1681 als Zufluchtsstätte für verfolgte Quäker in Nordamerika ein großes Gebiet nördlich von Maryland (Pennsylvania) und 1682 Delaware. |