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Lebensweisheit

von
Arthur Schopenhauer



D. Unser Verhalten gegen den Weltlauf und das Schicksal betreffend

  1. Welche Form auch das menschliche Leben annehme; es sind immer dieselben Elemente, und daher ist es im wesentlichen überall dasselbe, es mag in der Hütte, oder bei Hofe, im Kloster, oder bei der Armee geführt werden. mögen seine Begebenheiten, Abenteuer, Glücks- und Unglücksfälle noch so mannigfaltig sein; so ist es doch damit, wie mit der Zuckerbäckerware. Es sind viele und vierlerlei gar krause und bunte Figuren: aber alles ist aus einem Teig geknetet; und was dem einen begegnet, ist dem, was dem andern widerfuhr, viel ähnlicher, als dieser beim Erzählenhören denkt. Auch gleichen die Vorgänge unsers Lebens den Bildern im Kaleidoskop, in welchem wir bei jeder Drehung etwas anders sehn, eigentlich aber immer dasselbe vor Augen haben.


  2. Drei Weltmächte gibt es, sehr treffend, ein Alter: συνεσις, ϰρατος ϰαι τυχη, Klugheit, Stärke und Glück. Ich glaube, daß die zuletzt genannte am meisten vermag. Denn unser Lebensweg ist dem Lauf eines Schiffes zu vergleichen. Das Schicksal, die τυχη, die secunda aut adversa fortuna, spielt die Rolle des Windes, indem sie uns schnell weit fördert, oder weit zurückwirft; wogegen unser eigenes Mühen und Treiben nur wenig vermag. Dieses nämlich spielt dabei die Rolle der Ruder: wenn solche, durch viele Stunden langes Arbeiten, uns eine Strecke vorwärts gebracht haben, wirft ein plötzlicher Windstoß uns ebenso weit zurück. Ist er hingegen günstig, so fördert er uns dermaßen, daß wir der Ruder nicht bedürfen. Diese macht des Glückes drückt unübertrefflich ein spanisches Sprichwort aus: Da ventura a tu hijo, y echa lo en el mar (gib deinem Sohne Glück und wirf ihn ins Meer.)

    Wohl ist der Zufall eine böse Macht, der man so wenig wie möglich anheimstellen soll. Jedoch wer ist, unter allen Gebern, der einzige, welcher, indem er gibt, uns zugleich auf deutlichste zeigt, daß wir gar keine Ansprüche auf seine Gaben haben, daß wir solche durchaus nicht unserer Würdigkeit, sondern ganz allein seiner Güte und Gnade zu danken haben, und daß wir eben hieraus die freudige Hoffnung schöpfen dürfen, noch ferner manche unverdiente Gabe demutsvoll zu empfangen? - Es ist der Zufall: er, der die königliche Kunst versteht, einleuchtend zu machen, daß gegen seine Gunst und Gnade alles Verdienst ohnmächtig ist und nichts gilt. -

    Wenn man auf seinen Lebensweg zurücksieht, den "labyrinthisch irren Lauf" desselben überschaut und nun so manches verfehlte Glück, so manches herbeigezogene Unglück sehen muß; so kann man in Vorwürfen gegen sich selbst leicht zu weit gehn. Denn unser Lebenslauf ist keineswegs schlechthin unser eigenes Werk; sondern das Produkt zweier Faktoren, nämlich der Reihe der Begebenheiten und der Reihe unserer Entschlüsse, welche stets ineinandergreifen und sich gegenseitig modifizieren. Hiezu kommt noch, daß in beiden unser Horizont immer sehr beschränkt ist, indem wir unsere Entschlüsse nicht schon von weitem vorhersagen und noch weniger die Begebenheiten voraussehen können, sondern von beiden uns eigentlich nur die gegenwärtigen recht bekannt sind. Deshalb können wir, solange unser Ziel noch fern liegt, nicht einmal gerade darauf hinsteuern; sondern nur approximativ und nach Mutmaßungen unsere Richtung dahin lenken, müssen also oft lavieren. Alles nämlich, was wir vermögen, ist, unsere Entschlüsse allezeit nach Maßgabe der gegenwärtigen Umstände zu fassen, in der Hoffnung, es so zu treffen, daß es uns dem Hauptziel näherbringe. So sind denn meistens die Begebenheiten und unsere Grundabsichten zweien, nach verschiedenen Seiten ziehenden Kräften zu vergleichen, und die daraus entstehende Diagonal ist unser Lebenslauf. - Terenz hat gesagt: in vita est hominum quasi cum ludas tesseris: si illud, quod maxime opus est jactu, nun cadit, illud quod cecidit forte, id arte ut corrigas; wobei er eine Art Tricktrack vor Augen gehabt haben muß. Kürzer können wir sagen: das Schicksal mischt die Karten, und wir spielen. Meine gegenwärtige Betrachtung ausdrücken, wäre aber folgendes Gleichnis am geeignetesten. Es ist im Leben wie im Schachspiel: wir entwerfen einen Plan: dieser bleibt jedoch bedingt durch das, was im Schachspiel dem Gegner, im Leben dem Schicksal zu tun belieben wird. Die Modifikationen, welche hierdurch unser Plan erleidet, sind meistens so groß, daß er in der Ausführung kaum noch an einigen Grundzügen zu erkennen ist.

    Uebrigens gibt es in unserm Lebenslaufe noch etwas, welches über das alles hinausliegt. Es ist nämlich eine triviale und nur zu häufig bestätigte Wahrheit, daß wir oft törichter sind, als wir glauben: hingegen ist, daß wir oft weiser sind, als wir selbst vermeinen, eine Entdeckung, welche nur die, so in dem Fall gewesen, und selbst dann erst spät, machen. Es gibt etwas Weiseres in uns, als der Kopf ist. Wir handeln nämlich, bei den großen Zügen, den hauptschritten unsers Lebenslaufes, nicht sowohl nach deutlicher Erkenntnis des Rechten, als nach einem innern Impuls, man möchte sagen Instinkt, der aus dem tiefsten Grunde unsers Wesens kommt, und bemäkeln nachher unser Tun nach deutlichen, aber auch dürftigen, erworbenen, ja, erborgten Begriffen, nach allgemeinen Regeln, fremden Beispiele usw., ohne das "Eines schickt sich nicht für alle" genugsam zu erwägen; da werden wir leicht ungerecht gegen uns selbst. Aber am Ende zeigt es sich, wer recht gehabt hat; und nur das glücklich erreichte Alter ist, subjektiv und objektiv, befähigt, die Sache zu beurteilen.

    Vielleicht steht jener innere Impuls unter uns unbewußter Leitung prophetischer, beim Erwachen vergessener Träume, die eben dadurch unserm Leben die Gleichmäßigkeit des Tones und die dramatische Einheit erteilen, die das so oft schwankende und irrende, so leicht umgestimmte Gehinbewußtsein ihm zu geben nicht vermöchte, und infolge welcher z. B, der zu großen Leistungen einer bestimmten Art Berufene dies von Jugend auf innerlich und heimlich spürt und darauf hinarbeitet, wie die Bienen am Bau ihres Stocks. Für jeden aber ist es das, was Baltasar Gracian la gran sinderesis nennt: die instinktive große Obhut seiner selbst, ohne welche er zugrunde geht. - Nach abstrakten Grundsätzen handeln ist schwer und gelingt erst nach vieler Uebung, und selbst da nicht jedesmal: auch sind sie oft nicht ausreichend. Hingegen hat jeder gewisse angeborene konkrete Grundsätze, die ihm in Blut und Saft stecken, indem sie das Resultat alles seines Denkens Fühlens und Wollens sind. Er kennt sie meistens nicht in abstracto, sondern wird erst beim Rückblick auf sein Leben gewahr, daß er sie stets befolgt hat und von ihnen, wie von einem unsichtbaren Faden, ist gezogen worden. Je nachdem sie sind, werden sie ihn zu seinem Glück oder Unglück leiten.


  3. Man sollte beständig die Wirkung der Zeit und die Wandelbarkeit der Dinge vor Augen haben und daher bei allem, was jetzt stattfindet, sofort das Gegenteil davon imaginieren; also im Glücke das Unglück, in der Freundschaft die Feindschaft, im schönen Wetter das schlechte, in der Liebe den Haß, im Zutrauen und Eröffnen den Verrat und die Reue, und so auch umgekehrt, sich lebhaft vergegenwärtigen. Dies würde eine bleibende Quelle wahrer Weltklugheit abgeben, indem wir stets besonnen bleiben und nicht so leicht getäuscht werden würden. Meistens würden wir dadurch nur die Wirkung der Zeit antizipiert haben. - Aber vielleicht ist zu keiner Erkenntnis die Erfahrung so unerläßlich, wie zur richtigen Schätzung des Unbestandes und Wechsels der Dinge. Weil eben jeder Zustand für die Zeit seiner Dauer, notwendig und daher mit vollstem Rechte vorhanden ist; so sieht jedes Jahr, jeder Monat, jeder Tag aus, als ob nun endlich er recht behalten wollte, für alle Ewigkeit. Aber keiner behält es, und der Wechsel allein ist das Beständige. Der Kluge ist der, welchen die scheinbare Stabilität nicht täuscht, und der noch dazu die Richtung, welche der Wechsel zunächst nehmen wird, vorhersieht *).

    Anmerkung *) Der Zufall hat bei allen menschlichen Dingen so großen Spielraum, daß, wenn wir einer von ferne drohenden Gefahr gleich durch Aufopferungen vorzubeugen suchen, diese Gefahr oft durch einen unvorhergesehenen Stand, den die Dinge annehmen, verschwindet, und jetzt nicht nur die gebrachten Opfer verloren sind, sondern die durch sie herbeigeführte Veränderung nunmehr, beim veränderten Stande der Dinge, gerade ein Nachteil ist. Wir müssen daher in unsern Vorkehrungen nicht zu weit in die Zukunft greifen, sondern auch auf den Zufall rechnen und mancher Gefahr kühn entgegenziehn, hoffen, daß sie, wie so manche schwarze Gewitterwolke, vorüberzieht.

    Daß hingegen die Menschen den einstweiligen Zustand der Dinge, oder die Richtung ihres Laufes, in der Regel für bleibend halten, kommt daher, daß sie die Wirkungen vor Augen haben, aber die Ursachen nicht verstehn, diese es jedoch sind, welche den Keim der künftigen Veränderungen in sich tragen, während die Wirkung, welche für jene allein da ist, hievon nichts enthält. An diese halten sie sich und setzen voraus, daß die ihnen unbekannten Ursachen, welche solche hervorzubringen vermochten, auch imstande sein werden, sie zu erhalten, Sie haben dabei den Vorteil, daß, wenn sie irren, es immer unisono geschieht; daher denn die Kalamität, welche infolge davon sie trifft, stets eine allgemeine ist, während der denkende Kopf, wenn er geirrt hat, noch dazu allein steht. - Beiläufig haben wir daran eine Bestätigung meines Satzes, daß der Irrtum stets aus dem Schluß von der folge auf den Grund entsteht. Siehe "Welt als Wille und Vorst." Bd. 1, S. 90.

    Jedoch nur theoretisch und durch Vorhersehn ihrer Wirkung soll man die Zeit antizipieren, nicht praktisch, nämlich nicht so, daß man ihr vorgreife, indem man vor der Zeit verlangt, was erst die Zeit bringen kann. Denn wer dies tut, wird erfahren, daß es keinen schlimmeren, unnachlassendern Wucherer gibt, als eben die Zeit, und daß sie, wenn zu Vorschüssen gezwungen, schwerere Zinsen nimmt, als irgendein Jude (Anmerkung Webmaster: Christen durften früher nicht den Beruf des Geldverleihers ausüben, sodaß diese Berufssparte überwiegend in jüdischer Hand war). Z. B. man kann durch ungelöschten Kalk und Hitze einen Baum dermaßen treiben, daß er binnen weniger Tage, Blätter, Blüten und Früchte treibt: dann aber stirbt er ab. - Will der Jüngling die Zeugungskraft des Mannes schon jetzt, wenn auch nur auf etliche Wochen, ausüben, und im neunzehnten Jahre leisten, was er im dreißigsten sehr wohl könnte; so wird allenfalls die Zeit den Vorschuß leisten, aber ein Teil der Kraft seiner künftigen Jahre, ja, ein Teil seines Lebens selbst, ist der Zins. - Es gibt Krankheiten, von denen man gehörig und gründlich nur dadurch genest, daß man ihnen ihren natürlichen Verlauf läßt, nach welchem sie von selbst verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Verlangt man aber sogleich und jetzt, nur gerade jetzt, gesund zu sein; so muß auch hier die Zeit Vorschuß leisten: die Krankheit wird vertrieben: aber der Zins ist Schwäche und chronische Uebel, zeitlebens. - Wenn man in Zeiten des Krieges, oder der Unruhen, Geld gebraucht, und zwar sogleich, gerade jetzt; so ist man genötigt, liegende Gründe, oder Staatspapiere, für ein Drittel und noch weniger ihres Wertes zu verkaufen, den man zum vollen erhalten würde, wenn man der Zeit ihr Recht widerfahren lassen, also einige Jahre warten wollte: aber man zwingt sie, Vorschuß zu leisten. - Oder auch man bedarf einer Summe zu einer weiten Reise: binnen einer oder zweier Jahre könnte man sie von seinem Einkommen zurückgelegt haben. Aber man will nicht warten: sie wird also geborgt, oder einstweilen vom Kapital genommen: d. h. die Zeit muß vorschießen. Da ist ihr Zins eingerissene Unordnung in der Kasse, ein bleibendes und wachsendes Defizit, welches man nie mehr los wird. - Dies also ist der Wucher der Zeit: seine Opfer werden alle, die nicht warten können. Den Gang der gemessen ablaufenden zeit beschleunigen zu wollen, ist das kostspieligste Unternehmen. Also hüte man sich, der Zeit Zinsen schuldig zu werden,


  4. Ein charakteristischer und im gemeinen Leben sehr oft sich hervortuender Unterschied zwischen den gewöhnlichen und den gescheiten Köpfen ist, daß jene, bei ihrer Ueberlegung und Schätzung möglicher Gefahren, immer nur fragen und berücksichtigen, was derart bereits geschehn sei; diese hingegen selbst überlegen, was möglicherweise geschehn könne; wobei sie bedenken, daß, wie ein spanisches sprichwort sagt, lo que no acaece en un año, acaece en un rato (was binnen eines Jahres nicht geschieht, geschieht binnen weniger Minuten). Der in Rede stehende Unterschied ist freilich natürlich: denn was geschehn kann zu überblicken, erfordert Verstand, was geschehn ist, bloß Sinne.

    Unsere Maxime aber sei: opfere den bösen Dämonen! D. h. man soll einen gewissen Aufwand von Mühe, Zeit, Unbequemlichkeit, Weitläufigkeit, Geld, oder Entbehrung nicht scheuen, um der Möglichkeit eines Unglücks die Türe zu verschließen: und je größer dieses wäre, desto kleiner, entfernter, unwahrscheinlicher mag jene sein. Die deutlichste Exemplifikation dieser Regel ist die Assekuranzprämie. Sie ist ein öffentlich und von allen auf den Altar der bösen Dämonen gebrachtes Opfer.


  5. Ueber keinen Vorfall sollte man in großen Jubel, oder große Wehklage ausbrechen; teils wegen der Veränderlichkeit aller Dinge, die ihn jeden Augenblick umgestalten kann; teils wegen der Trüglichkeit unsers Urteils über das uns Gedeihliche, oder Nachteilige; infolge welcher fast jeder einmal gewehklagt hat über das, was nachher sich als sein wahres Bestes auswies, oder gejubelt über das, was die Quelle seiner größten Leiden geworden ist. die hier dagegen empfohlene Gesinnung hat Shakespeare schön ausgedrückt:

    I have felt so many quirks of joy and grief,
    That the first face of neither, on the start,
    can woman me unto it. *)

    (All's well, A. 3. sc. 2.)

    Anmerkung *) So viele Anfälle von Freude und Gram habe ich schon empfunden, daß ich nie mehr vom ersten Anblicke des Anlasses zu einem von beiden sogleich mich weibisch hinreißen lasse.

    Ueberhaupt aber zeigt der, welcher bei allen Unfällen gelassen bleibt, daß er weiß, wie kolossal und tausendfältig die möglichen Uebel des Lebens sind; weshalb er das jetzt eingetretene ansieht als einen sehr kleinen Teil dessen, was kommen könnte: dies ist die stoische Gesinnung, in Gemäßheit welcher man niemals conditionis humanae oblitus, sondern stets eingedenk sein soll, welch ein trauriges und jämmerliches Los das menschliche Dasein überhaupt ist, und wie unzählig die Uebel sind, denen es ausgesetzt ist. Diese Einsicht aufzufrischen, braucht man überall nur einen Blick um sich zu werfen: wo man auch sei, wird man es bald vor Augen haben, dieses Ringen und Zappeln und Quälen, um die elende, kahle, nichts abwerfende Existenz. Man wird danach seine Ansprüche herabstimmen, in die Unvollkommenheit aller Dinge und Zustände sich finden lernen und Unfällen stets entgegensehn, um ihnen auszuweichen, oder sie zu ertragen. Denn Unfälle, große und kleine, sind das eigentliche Element unsers Lebens: dies sollte man also stets gegenwärtig haben; darum jedoch nicht, als ein δυσϰολος, mit Beresford, über die stündlichen miseries of human life lamentieren und Gesichter schneiden, noch weniger in pulicis morsu Deum invocare; sondern, als ein ευλαβης die Behutsamkeit im Zuvorkommen und Verhüten der Unfälle, sie mögen von Menschen, oder von Dingen ausgehn, so weit treiben und so sehr darin raffinieren, daß man, wie ein kluger Fuchs, jedem großen oder kleinen Mißgeschick (welches meistens nur ein verkapptes Ungeschick ist) säuberlich aus dem Wege geht.

    Daß ein Unglücksfall uns weniger schwer zu tragen fällt, wenn wir zum voraus ihn als möglich betrachten und, wie man sagt, uns darauf gefaßt gemacht haben, mag hauptsächlicher daher kommen, daß, wenn wir den Fall, ehe er eingetreten, als eine bloße Möglichkeit, mit Ruhe überdenken, wir die Ausdehnung des Unglücks deutlich und nach allen Seiten übersehn, und so es wenigstens als ein endliches und überschaubares erkennen; infolge wovon es, wenn es nun wirklich trifft, doch mit nicht mehr, als seiner wahren Schwere wirken kann. Haben wir hingegen jenes nicht getan, sondern werden unvorbereitet getroffen; so kann der erschrockene Geist, im ersten Augenblick, die Größe des Unglücks nicht genau ermessen: es ist jetzt für ihn unübersehbar, stellt sich daher leicht als unermeßlich, wenigstens viel größer dar, als es wirklich ist. Auf gleiche Art läßt Dunkelheit und Ungewißheit jede Gefahr größer erscheinen. Freilich kommt noch hinzu, daß wir für das als möglich antizipierte Unglück zugleich auch die Trostgründe und Abhilfen überdacht, oder wenigstens uns an die Vorstellung desselben gewöhnt haben.

    Nichts aber wird uns zum gelassenen Ertragen der uns treffenden Unglücksfälle besser befähigen, als die Ueberzeugung von der Wahrheit, welche ich in meiner Preisschrift über die Freiheit des Willens aus ihren letzten Gründen abgeleitet und festgestellt habe, nämlich, wie es daselbst, S. 62 heißt: "Alles, was geschieht, vom Größten bis zum Kleinsten, geschieht notwendig." Denn in das unvermeidlich Notwendige weiß der Mensch sich bald zu finden, und jene Erkenntnis läßt ihn alles, selbst das durch die fremdartigsten Zufälle Herbeigeführte, als ebenso notwendig ansehn, wie das nach den bekanntesten Regeln und unter vollkommener Voraussicht Erfolgende. Ich verweise hier auf das, was ich ("Welt als Wille und Vorst." Bd. 1, S. 345 u. 46) über die beruhigende Wirkung der Erkenntnis des Unvermeidlichen und Notwendigen gesagt habe. Wer davon durchdrungen ist, wird zuvörderst tun, was er kann, dann aber willig leiden, was er muß.

    Die kleinen Unfälle, die uns stündlich vexieren, kann man betrachten als bestimmt, uns in Uebung zu erhalten, damit die Kraft, die großen zu ertragen, im Glück nicht ganz erschlaffe. Gegen die täglichen Hudeleien, kleinlichen Reibungen im menschlichen Verkehr, unbedeutende Anstöße, Ungebührlichkeiten anderer, Klatschereien u. dgl. m. muß man ein gehörnter Siegfried sein, d. h. sie gar nicht empfinden, weit weniger sich zu Herzen nehmen und darüber brüten; sondern von dem allen nichts an sich kommen lassen, es von sich stoßen, wie Steinchen, die im Wege liegen, und keineswegs es aufnehmen in das Innere seiner Ueberlegung und Rumination.


  6. Was aber die Leute gemeiniglich das Schicksal nennen, sind meistens nur ihre eigenen dummen Streiche. Man kann daher nicht genugsam die schöne Stelle im Homer (I1. XXIII, 312 sqq.) beherzigen, wo er die μητις, d. i. die kluge Ueberlegung empfiehlt. Denn wenn auch die schlechten Streiche erst in jener Welt gebüßt werden, so doch die dummen schon in dieser; - wiewohl hin und wieder einmal Gnade für Recht ergehen mag.

    Nicht wer grimmig, sondern wer klug dareinschaut, sieht furchtbar und gefährlich aus: - so gewiß des Menschen Gehirn eine furchtbarere Waffe ist, als die Klaue des Löwen. -

    Der vollkommene Weltmann wäre der, welcher nie in Unschlüssigkeit stockte und nie in Uebereilung geriete.


  7. Nächst der Klugheit aber ist Mut eine für unser Glück sehr wesentliche Eigenschaft. Freilich kann man weder die eine noch die andere sich geben, sondern ererbt jene von der Mutter und diesen vom Vater: jedoch läßt sich durch Vorsatz und Uebung dem davon vorhandenen nachhelfen. Zu dieser Welt, wo "die Wüfel eisern fallen", gehört ein eiserner Sinn, gepanzert gegen das Schicksal und gewaffnet gegen die Mensch. Denn das ganze Leben ist ein Kampf, jeder Schritt wird uns streitig gemacht, und Voltaire sagt mir Recht: On ne réussit dans ce monde, qu'à la pointe de l'épée, et on meurt les armes à la main. Daher ist es eine feige Seele, die, sobald Wolken sich zusammenziehn oder wohl gar nur am Horizont sich zeigen, zusammenschrumpft, verzagen will und jammert. Vielmehr sei unser Wahlspruch:

    Tu ne cede malis, sed contra audentior ito.

    Solange der Ausgang einer gefährlichen Sache nur noch zweifelhaft ist, solange nur noch die Möglichkeit, daß er ein glücklicher werde, vorhanden ist, darf an kein Zagen gedacht werden, sondern bloß an Widerstand; wie man am Wetter nicht verzweifeln darf, solange noch ein blauer Fleck am Himmel ist. Ja, man bringe es dahin zu sagen:

    Si fractus illabatur orbis,
    Impavidum ferient ruinae.

    Das ganze Leben selbst, geschweige seine Güter, sind noch nicht so ein feiges Beben und Einschrumpfen des Herzens wert:

    Quocirca viivite fortes,
    Fortiaque adversis opponite pectora rebus.

    Und doch ist auch hier ein Exzeß möglich: denn der Mut kann in Verwegenheit ausarten. Sogar ist ein gewisses Maß von Furchtsamkeit zu unserm Bestande in der Welt notwendig: die Feigheit ist bloß das Ueberschreiten desselben. Dies hat Baco von Verulam gar treffend ausgedrückt, in seiner etymologischen Erklärung des terror panicus, welche die ältere, von Plutarch (De Iside et Osir. c. 14) uns erhaltene, weit hinter sich läßt. Er leitet nämlich denselben ab vom Pan, als der Personifizierten Natur, und sagt: Natura enim rerum omnibus viventibus indidit metum, ac mala ingruentia vitantem et depellentem. Verumtamen eadem natura modum tenere nescia est: sed timoribus salutaribus semper vanos et inanes admiscet; adeo ut omnia (si intus conspici darentur) Panicis terroribus plenissima sint, praesertim humana. (De sapientia veterum VI.) Uebrigens ist das Charakteristische des panischen Schreckens, daß er seiner Gründe nicht deutlich bewußt ist, sondern sie mehr voraussetzt, als kennt, ja, zur Not geradezu die Furcht selbst als Grund der Furcht geltend macht.