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Balthasar Gracians

(geb. 1604, gest. 1658)

Handorakel

Die Kunst der Weltklugheit - in dreihundert Lebensregeln

Regel 1-100



1
Alles hat heutzutage seinen Gipfel erreicht,

den höchsten aber die Kunst, sich Geltung zu verschaffen. Mehr gehört jetzt zu einem Weisen als in alten Zeiten zu sieben, und man wurde ehedem leichter mit einem ganzen Volke fertig denn heute mit einem einzigen Menschen.

2
Herz und Kopf,

die beiden Pole der Spannweite unserer Fähigkeiten: eines ohne das andere ergibt nur Halbheit. Verstand nutzt nichts ohne Gemüt. Mit dem Herzen allein aber ohne Kopf schlägt alles fehl: in der Ehe, im Beruf, in der Gesellschaft.

3
Über seine Pläne im Unklaren lassen

Wundern sich die Leute über etwas Neues, dann bedeutet das schon halbes Gelingen. Mit offenen Karten spielen ist weder nützlich noch angenehm. Indem man seine Absicht nicht sogleich verrät, erregt man Erwartung, zumal wenn man durch besondere Stellung im Brennpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit steht. Im Schatten eines Geheimnisses wird man erst begehrenswert; ein verschlossener Charakter erweckt die Scheu der Bewunderung. Behutsames Schweigen ist der Anfang aller Klugheit. Offen ausgesprochenes Vorhaben wird nie besonders geschätzt, es fordert zu voreiligem Tadel heraus. Geht etwas gar schlecht aus, dann wußten es alIe schon vorher. Am besten ist es, du spielst Vorsehung, indem du die Leute durch Ungewißheit in Unruhe hältst.

4
Wissen und Tapferkeit

sind die Grundpfeiler der Größe. Sie machen unsterblich. Jeder ist soviel, wie er weiß, der Weise ist fast allmächtig. Ein Mensch ohne Wissen - ein Dasein ohne Licht. Einsicht und Kraft sind wichtig wie Augen und Hände. Aber ohne Tapferkeit ist jedes Wissen unfruchtbar.

5
Seine Umwelt von sich abhängig machen!

Götterbilder erhalten ihre Macht nicht durch den, der sie schnitzte, sondern durch die vielen, die sie anbeten. Der Kluge sieht lieber die Leute seiner bedürftig, als daß sie ihm zu Dank verplichtet sind; sie am Seil der Hoffnung zu führen, gebietet Welterfahrung; sich auf Dankbarkeit zu Verlassen ist töricht. Hoffnung nämlich hat ein treffliches Gedächtnis, Dankbarkeit ist sehr vergeßlich. Der noch unbefriedigt Hoffende bleibt dir unerschütterlich verbunden, der zu Dank Verpflichtete möchte dich am liebsten los sein. Wer seinen Durst gelöscht hat braucht die Quelle nicht mehr; eine ausgedrückte Zitrone wird in den Kehricht geworfen. Ist die hoffende Abhängigkeit zu Ende, dann hört meist auch die Hochachtung auf. Hauptlehre der Erfahrung: erhalte die Hoffnung, ohne sie je ganz zu befriedigen, und bleibe immerdar unentbehrlich sogar vor Königen. Natürlich soll man diese Maxime nicht übertreiben, indem man etwa schweigt, um den anderen Fehler begehen zu lassen. Eigener Vorteil darf fremden Schaden nicht unheilbar machen.

6
Nach Vollendung trachten!

Man wird nicht fertig geboren; mit jedem Tag trachte man sich in seiner Person und seinem Beruf zu vervollkommnen, bis man dem Punkt der Vollendung nahe kommt, wo alle Fähigkeiten entwickelt, alle guten Eigenschaften zur Blüte gebracht sind. So wird der Geschmack geläutert, das Denken erhaben, das Urteil reif und der Wille rein. Manche kommen niemals so weit, immer fehlt ihnen etwas. Andere gelangen sehr spät zur Reife. Der vollendete Mann, weise in seinen Reden, klug in seinem Tun, wird in den vertrauten Umgang gescheiter Leute gezogen, ja man sucht ihn allenthalben.

7
Sich vor einem Sieg über Vorgesetzte hüten!

Jede Art von Überlegenheit macht unbeliebt, aber seinen eigenen Herrn übertreffen zu wollen, ist entweder dumm oder zeigt von tragischer Blindheit. Immer wird Überlegenheit verabscheut - um wieviel mehr die über die Überlegenheit selbst. Vorzüge niedriger Art wird der Bedachtsame verbergen, persönliche Schönheit etwa durch ein möglichst bescheidenes Auftreten. Mag sein, daß jemand sich bequemt, uns in glücklichen Zufällen oder in Gemütseigenschaften den Vorrang zu lassen - an Verstand aber will uns keiner nachstehen, wie viel weniger ein Fürst! Ist doch der Verstand eine königliche Eigenschaft, und deshalb jeder Angriff auf den Verstand ein Majestätsverbrechen. Ein Vorgesetzter erlaubt wohl, daß man ihm hilft, aber daß man ihn übertrifft - niemals! Ein ihm erteilter Rat sehe daher immer aus wie eine Erinnerung an etwas, was der Herr Vorgesetzte bereits gesagt, aber im Augenblick zu wiederholen vergaß; er gleiche einem aufgesteckten Licht, das ihn finden läßt, was er nicht gleich von selbst entdeckte. Der Himmel gibt uns das beste Beispiel: wohl glänzen die Sterne, nie aber würden sie es wagen, sich mit den Strahlen der Sonne zu messen.

8
Leidenschaftslos sein:

eine Eigenschaft höchster Geistesgröße, deren Überlegenheit sie loskauft vom Joche gemeiner äußerer Eindrücke. Keine höhere Herrschaft, als die über sich selbst und über seine Affekte; sie wird zum Triumph des freien Willens. Sollte aber die Leidenschaft sich der Person bemächtigen, so darf sie doch nie sich an das Amt wagen, und um so weniger, je höher dieses ist. So gelingt es am besten, sich Verdrießlichkeiten zu ersparen, ja sogar auf dem kürzeren Wege zu Ansehen zu gelangen.

9
Nationalfehler verleugnen

Das Wasser nimmt die guten oder schlechten Eigenschaften der Schichten an, durch welche es läuft, und der Mensch die des Klimas, in welchem er geboren wird. Einige haben ihrem Vaterlande mehr zu verdanken als andere, die ein weniger günstiger Himmel umfing. Es gibt keine Nation, welche davon frei wäre, irgendeinen ihr eigentümlichen Fehler zu haben, den die benachbarten zu tadeln nicht ermangeln, entweder um sich davor zu hüten oder sich damit zu trösten. Es ist eine rühmliche Geschicklichkeit, solche Makel seiner Nation an sich selbst zu bessern oder wenigstens zu verbergen. Man erlangt dadurch den beifälligen Ruf, der Einzige unter den Seinigen zu sein, und was am wenigsten erwartet wurde, wird am höchsten geschätzt. Ebenso gibt es Fehler der Familie, des Standes, Amtes und Alters; treffen sie in einem Menschen zusammen, ohne daß Aufmerksamkeit ihnen entgegenwirkt, so machen sie aus ihm ein, unerträgliches Ungeheuer.

10
Glück und Ruhm -

unbeständig das eine, dauerhaft das andere; Glück brauchst du gegen den Neid, den Ruhm gegen die Vergessenheit. Glück wird gewünscht, bisweilen gefördert; es kommt von selbst; Ruhm muß erworben werden. Der Wunsch nach Ruhm entspringt dem eigenen Wert. Ruhm bleibt immer zwiespaltig: er folgt blindlings dem Außergewöhnlichen, sei es nun ein Gegenstand des Abscheus oder des Beifalls.

11
Mit dem umgeben, von dem man lernen kann!

Der Umgang mit Freunden sei eine Schule der Bildung; keine Unterhaltung, die nicht auch belehre. Aus seinen Bekannten mache man I.ehrer und lasse den Nutzen des Lernens und das Vergnügens der Unterhaltung sich wechselseitig durchdringen. Bei klugen Leuten ist vieles zu gewinnen, indem man für Kluges, was man sagt, Beifall, und von dem, was man vernimmt, Nutzen erntet. Was uns zu anderen führt, ist gewöhnlich unser eigenes Interesse, dies ist hier jedoch höherer Art. Es ist gut, Häuser von Adeligen des Geistes zu besuchen, denn es sind dies nicht Paläste der Eitelkeit, sondern Schauplätze seelischer Größe. Bemühe dich um Männer, welche im Ruf der Weltklugheit stehen: nicht nur sind diese selbst durch ihr Beispiel vorbildlich, sondern auch die sie umgebende Schar bildet meist eine höfische Akademie guter und edler Klugheit jeder Art.

12
Natur und Kunst:

der Stoff und das Werk. Keine Schönheit besteht ohne Nachhilfe, und jede Vollkommenheit artet in Barbarei aus, wenn sie nicht von der Kunst erhöht wird. Die Kunst beseitigt das Schlechte und vervollkommnet das Gute. Die Natur läßt uns gemeinhin beim Besten im Stich; nehmen wir daher unsere Zuflucht zur Kunst. Ohne sie ist die beste natürliche Anlage ungebildet, und den Vollkommenheiten fehlt die Hälfte, wenn ihnen die Bildung mangelt. Ohne künstlerische Bildung bleibt jeder Mensch irgendwie roh; er bedarf zu jeder Art von Vollkommenheit des Schliffes durch die Kunst.

13
Über die Absicht im unklaren lassen

Das Leben der Menschen ist ein Krieg gegen die Bosheit der Menschen. Klugheit verwendet daher Kriegslisten. Sie tut nie das, was sie tun zu wollen scheint; sie zielt nach vorgespiegelten, falschen Zielen. Geschickt führt sie I.uftstreiche aus, dann, mittendrin, etwas Unerwartetes, stets darauf bedacht, die wahre Absicht zu verbergen. Sie läßt einen Plan vermuten, um die Aufmerksamkeit des Gegners darauf zu lenken, gibt ihn aber im selben Augenblick wieder auf und siegt durch einen Hieb, den keiner erwartet hat. Solcher Methode kommt andererseits durchdringender Scharfsinn zuvor, indem der Gegner mit schlauer Überlegung belauert wird. Stets versieht er sich des Gegenteils von dem, was man ihm zu verstehen gibt, und durchschaut sofort jedes falsche Spiel. Man läßt die erste Absicht außer acht und wartet auf die zweite, die dritte. Jetzt erkennt die Verstellung, daß ihre Künste durchschaut sind, und sie steigert sie noch höher, indem sie nunmehr versucht, durch die Wahrheit selbst zu täuschen. Die Klugheit ändert das Spiel, um ihre List zu ändern, läßt das Nicht-Erkünstelte als erkünstelt erscheinen, und ihre vollkommenste Aufrichtigkeit ist gerade ihr vollkommenster Betrug. Aber die beobachtende Schlauheit ist auf ihrem Posten, strengt ihren Scharfblick an und entdeckt die in Aufrichtigkeit gehüllte Täuschung. Sie entschleiert jene Absicht, die um so trügerischer war, je aufrichtiger sie sich gab. So kämpft die Arglist des Python gegen den Glanz der durchdringenden Strahlen Apolls.

14
Die Sache und die Art

Die Dinge an und für sich sind belanglos, erst die Begleitumstände machen sie wesentlich. Schlechte Art kann alles verderben, sogar Recht und Vernunft. Gute Art hingegen kann alles ersetzen: vergoldet das Nein, versüßt bittere Wahrheit und macht das Alter jung. Auf das Wie kommt alles an - artige Manier ist der Taschendieb der Herzen. Feines Benehmen ist der Schmuck des Lebens, an genehmer Ausdruck hilft wundervoll von der Stelle.

15
Hilfreiche Geister um sich haben

Es ist das Glück der Mächtigen, daß sie Männer von Einsicht um sich versammeln können, die sie der Gefahr der Unwissenheit entreißen und schwierige Streitfragen an ihrer Stelle lösen. Es liegt eine besondere Größe darin, Weise in seinem Dienst zu haben, und jener Tigranes war ein Barbar, da er sich von gefangenen Königen bedienen statt belehren ließ. Eine ganz neue Herrlichlkeit ist es, und zwar im Besten des Lebens, gerade jene für sich zu gewinnen, welche die Natur hoch über uns gestellt hat. Das Wissen ist lang, das Leben ist kurz, und wer nichts weiß, der lebt auch nicht. Da ist es denn ungemein klug, ohne Müheaufwand zu studieren, und zwar vieles von vielen, um durch sie alle Belehrt zu sein. Man redet nachher in der Versarnmlung für viele, indem aus Eines Munde so viele reden, wie man vorher zu Rate gezogen hat. So kommt man durch fremden Schweiß zu dem Ruf, ein Weiser zu sein. Jene hilfreichen Geister suchen die Lektion zusammen und tischen sie uns in Quintessenzen des Wissens auf. Nun ist wohl selten einer in der Lage, sich als Diener zu verpflichten. Aber durch eifrigen Umgang mit ihnen erreicht man Ähnliches.

16
Einsicht mit redlicher Absicht:

zusammen verbürgen sie durchgängiges Gelingen. Scharfer Verstand vereint mit bösem Willen erzeugt widernatürliche Ungeheuer. Böses Wollen vergiftet jegliche Tat; vom Wissen unterstützt, geschieht das Verbrechen auf feinere Art. Unselige Überlegenheit, die der Verworfenheit dienstbar ist! Wissenschaft ohne Verstand ist doppelte Narrheit.

17
Abwechslung im Verfahren

Man verfahre nicht immer auf gleiche Weise, damit man die Aufmerksamkeit, zumal die der Widersacher, verwirre; nicht stets aus der ersten Absicht, sonst werden jene diesen einförmigen Gang bald herausbekommen haben, uns zuvorkommen, oder gar unser Tun vereiteln. Es ist leicht, den Vogel im Fluge zu treffen, der ihn in gerade fortgesetzter Richtung, nicht aber den, der ihn im Zickzack nimmt. Aber auch aus der zweiten Absicht darf man nicht immer handeln; denn schon beim zweiten Male kennen die Gegner die List. Die Bosheit steht auf der Lauer, und großer Schlauheit bedarf es, sie zu täuschen. Nie spielt der Spieler die Karte aus, welche der Gegner erwartet, noch weniger die, welche er wünscht.

18
Fleiß und Talent:

ohne beides ist man nie ausgezeichnet, jedoch im höchsten Grade, wer beides in sich vereint. Mit dem Fleiße bringt ein mittelmäßiger Kopf es weiter als ein überlegener ohne ihn. Die Arbeit ist der Preis, für den man den Ruhm erkauft. Was wenig kostet, ist wenig wert. Sogar für die höchsten Ämter hat es einigen nur an Fleiß gefehlt; nur selten ließ das Talent sie im Stich. Daß man lieber auf einem hohen Posten mittelmäßig, als auf einem niedrigen ausgezeichnet ist, hat die Entschuldigung eines hohen für sich; hingegen daß man sich begnügt, auf dem untersten Posten mittelmäßig zu sein, während man auf dem obersten ausgezeichnet sein könnte, hat sie nicht. Also müssen Natur und Kunst zusammenwirken, und der Fleiß drücke ihnen das Siegel auf.

19
Nicht unter übermäßigen Erwartungen auftreten

Es ist das gewöhnliche Unglück alles sehr Gerühmten, daß es der übertriebenen Vorstellung gleichkommen kann. Nie konnte das Wirkliche das Eingebildete erreichen: denn sich Vollkommenheiten denken ist leicht, sie verwirklichen sehr schwer. Die Einbildungskraft verbindet sich mit dem Wunsche und stellt sich daher stets viel mehr vor, als die Dinge sind. Wie groß nun auch die Vortrefflichkeiten sein mögen, so reichen sie doch nicht hin, den vorgefaßten Begriff zu befriedigen; und da sie ihn unter der Täuschung seiner ausschweifenden Erwartung vorfinden, werden sie eher seinen Irrtum zerstören, als Bewunderung erregen. Die Hoffnung ist eine große Verfälscherin der Wahrheit; die Klugheit weise sie zurecht und sorge dafür, daß der Genuß die Erwartung übertreffe. Daß man beim Auftreten schon einigermaßen die Meinung für sich habe, dient dazu, Aufmerksamkeit zu erregen, ohne dem Gegenstand derselben Verpflichtungen aufzulegen. Viel besser ist es immer, wenn die Wirklichkeit die Erwartung übersteigt und mehr ist, als man gedacht hatte. Diese Regel wird falsch beim Schlimmen; da diesem die Übertreibung zustatten kommt, so sieht man solche gern wiederlegt, und dann gelangt das, was als ganz abscheulich gefürchtet wurde, noch dahin, erträglich zu scheinen.

20
Mann seines Jahrhunderts

Gerade außerordentliche Menschen hängen von den Zeitumständen ab. Nicht alle haben die gefunden, deren sie würdig gewesen wären. Manche fanden sie zwar, doch kamen sie nicht dazu, sie zu nutzen. Einige waren eines besseren Jahrhunderts wert, denn nicht immer tiumphiert das Gute. Jedes Ding hat seine Zeit und selbst die höchsten Eigenschaften unterliegen der Mode. Der Weise hat jedoch einen Vorteil: er ist unsterblich; würdigt ihn nicht dieses Jahrhundert, werden es viele spätere sein.

21
Die Kunst, Glück zu haben

Es gibt Regeln auch für das Glück, denn für den Klugen ist nicht alles Zufall. Mit einiger Mühe kann man dem Glück nachhelfen. Einige begnügen sich damit, sich wohlgemut an das Tor der Glücksgöttin zu stellen und zu warten, bis dieses sich öffnet. Andere - schon besser - streben vorwärts und machen ihre kluge Kühnheit geltend, damit sie auf den Flügeln ihres Wertes und ihrer Tapferkeit die Göttin erreichen und ihre Gunst erzwingen. Richtig überlegt gibt es aber doch keinen anderen sicheren Weg als den der Tugend und der Umsicht. Jeder hat gerade so viel Glück oder Unglück, als er Verstand oder Dummheit besitzt .

22
Der Mann von Bildung

Gescheite Leute sind mit einer eleganten und geschmackvollen Belesenheit ausgerüstet, verfügen über zeitgemäßes Wissen um alles, was an der Tagesordnung ist, jedoch mehr auf eine gelehrte als auf eine gemeine Weise. Sie halten sich einen geistreichen Vorrat witziger Reden und edler Taten, damit sie davon zur rechten Zeit Gebrauch machen können. Ein guter Witz hilft oft schneller als ein guter Rat, der durch langweilige Belehrung vorgebracht wird. Gangbares Wissen erwies sich manchmal als wertvoller als alle sieben freien Künste zu sammen.

23
Ohne Makel sein

ist unerläßliche Bedingung der Vollkommenheit. Es gibt wenige, die ohne irgend ein Gebrechen waren, im Physischen wie im Moralischen; und sie lieben solches innig, obwohl sie es leicht heilen könnten. Mit Bedauern sieht fremde Klugheit, wie oft einem ganzen Verein erhabener Fähigkeiten ein kleiner Fehler sich keck angehängt hat; und eine Wolke ist hinreichend, die ganze Sonne zu verdunkeln. So ist es mit Flecken unseres Ansehens, welche das Mißwollen sogleich herausfindet, und immer wieder darauf zurückkommt. Die größte Geschicklichkeit wäre, sie in Zierden zu verwandeln, in der Art, wie Cäsar sein physisches Gebrechen, seine Glatze, mit dem Lorbeer zu bedecken wußte.

24
Die Einbildungskraft zügeln,

indem man sie bald zurechtweist, bald ihr nachhilft; denn sie vermag alles über unser Glück, und sogar unser Verstand wird von ihr beeinflußt. Sie kann tyrannische Gewalt erlangen und begnügt sich nicht mit müßiger Beschauung, sondern wird tätig, bemächtigt sich sogar oft unseres ganzen Daseins, welches sie mit Lust oder Traurigkeit erfüllt, je nachdem die Torheit ist, auf die sie verfiel. Sie macht uns mit uns selbst zufrieden oder unzufrieden, spiegelt einigen beständige Leiden vor und wird der häusliche Henker dieser Toren. Andern zeigt sie nichts als Seligkeit und Glück, bis ihnen der Kopf schwindlig wird. Alles das vermag sie, wenn nicht die vernünftige Obhut unsrer selbst ihr den Zaum anlegt.

25
Winke zu verstehen wissen

Einst war es die Kunst aller Künste, reden zu können. Jetzt reicht das nicht mehr aus. Man muß vielmehr erraten können, besonders da, wo es auf Zerstörung unserer Täuschung abgesehen ist. Der kann nicht sehr verständig sein, der nicht leicht versteht. Es gibt Schatzgräber der Herzen und Luchse der Absichten. Gerade die Wahrheiten, an denen uns am meisten liegt, werden stets nur halb ausgesprochen. Nur der Aufmerksame erfaßt sie ganz. Bei allem Gewünschten halte er seinen Glauben stark am Zügel, bei allem Verhaßten gebe er ihm die Sporen.

26
Daumenschrauben für jeden finden:

das ist die Kunst, den Willen anderer in Bewegung zu setzen. Es gehört mehr Geschick als Kraft dazu, man muß nur wissen, wo der Hebel angesetzt werden kann. Es gibt keinen Willen, der nicht je nach Geschmack eigentümlich wäre. Alle sind Götzendiener: einige der Ehre, andere des Geldes, die meisten des Vergnügens. Die Kunst besteht darin, den Götzen eines jeden zu erraten, um ihn auf diese Art in die Hand zu bekommen. Weiß man, was für jeden der wirksame Anstoß ist, so ist es, als besäße man den Schlüssel zu seinem Willen. Man muß auf die allererste Springfeder, auf das primum mobile in ihm, zurückgehen, welches jedoch nicht das Höchste seiner Natur, sondern meist dessen Niedrigstes ist: denn es gibt mehr schlecht- als wohlgeordnete Charaktere in der Welt. Jetzt muß man sein Gemüt bearbeiten, dann ihm durch ein Wort den Anstoß geben, endlich mit seiner Lieblingsneigung den Hauptangriff zu machen. So wird unfehlbar sein freier Wille schachmatt.

27
Das Intensive höher als das Extensive schätzen

Vollkommenheit besteht nicht in der Quantität, sondern in der Qualität. Alles Vortreffliche ist wenig und selten, die Menge und Masse einer Sache macht diese oft minderwertig. Sogar unter den Menschen sind die Riesen meistens die Zwerge. Einige schätzen die Bücher nach ihrer Dicke, als ob sie geschrieben wären, die Arme und nicht den Kopf daran zu üben. Das Extensive allein führt nie über die Mittelmäßigkeit hinaus, und es ist das Unheil universeller Köpfe, daß sie, um in allem zu Hause zu sein, es in Wahrheit nirgends sind. Hingegen ist es das Intensive, woraus die Vortrefflichkeit entspringt, und zwar eine heroische, wenn in erhabener Form.

28
In nichts gemein sein

Erstlich nicht im Geschmack. Oh, welch ein weiser Mann, den es betroffen machte, daß seine Sache der Menge gefiel! Gemeiner Beifall in Fülle befriedigt den Verständigen keineswegs. Manche sind allerdings wahre Chamäleone der Popularität; sie gedeihen nicht unter dem Anhauch Apollos, sondern unter dem stinkenden Atem des Pöbels. Man finde kein Genügen an der Bewunderung durch die breite Masse, deren Unwissenheit nicht über das Staunen hinauskommen laßt. Während die allgemeine Dummheit bewundert, deckt der Verstand des einzelnen den Trug auf.

29
Ein rechtschaffener Mann sein

Stets ist dieser auf der Seite der Wahrheit mit solcher Festigkeit, daß weder die Leidenschaft des großen Haufens noch die Gewalt des Despoten ihn jemals dahin bringen, die Grenze des Rechtes zu übertreten. Allein wer ist dieser Phönix der Gerechtigkeit! Wohl wenige echte Anhänger hat die Rechtschaffenheit. Zwar rühmen sie viele, jedoch nicht für ihr Haus. Andere folgen ihr bis zum Punkt der Gefahr; dann aber verleugnen sie die Falschen, verhehlen sie die Politischen. Denn sie kennt keine Rücksicht, sei es, daß sie mit der Freundschaft, mit der Macht, oder mit dem eigenen Interesse sich feindlich begegnete: hier nun liegt die Gefahr, abtrünnig zu werden. Jetzt rücken die Schlauen mit Berechnung von ihr ab, um nicht der Absicht der Höheren oder der Staatsräson in den Weg zu treten. Jedoch der beharrliche Mann hält jede Verstellung für eine Art Verrat; er setzt seinen Wert mehr in seine unerschütterliche Festigkeit als in seine Klugheit. Stets ist er zu finden, wo die Wahrheit zu finden ist. Fällt er von einer Partei ab, so ist es nicht aus Wankelmut von seiner, sondern von ihrer Seite, indem sie zuvor von der Sache der Wahrheit abgefallen war.

30
Sich nicht zu Beschäftigungen bekennen, die in schlechtem Ansehen stehen,

noch weniger zu Phantastereien, wodurch man sich eher in Verachtung als in Ansehen bringt. Es gibt mancherlei grillenhafte Sekten, von welchen der kluge Mann sich fern hält. Es gibt allerdings Leute von wunderlichem Geschmack, welche immer nach dem greifen, was die Weisen verworfen haben, und dann in diesen Seltsamkeiten sich gar sehr gefallen. Dadurch werden sie zwar allgemein bekannt, doch mehr als Gegenstand des Lachens als des Ruhms. Sogar zur Weisheit wird der umsichtige Mann sich nicht auf eine hervorstechende Weise bekennen, viel weniger zu Dingen, welche ihre Anhänger lächerlich machen. Sie werden hier nicht aufgezählt, weil die allgemeine Verachtung sie genügsam bezeichnet hat.

31
Die Glücklichen und die Unglücklichen kennen,

um sich an jene zu halten und diese zu fliehen. Das Unglück ist nämlich meistens Strafe der Torheit, und keine Krankheit ist ansteckender als diese. Man darf auch einem kleinen Übel nicht die Türe öffnen, denn hinter ihm werden sich stets viele andere und größere einschleichen. Die feinste Kunst beim Spiel besteht im richtigen Ausspielen; die kleinste Karte der Farbe, die jetzt Trumpf ist, ist wichtiger als die größte derjenigen, die es vorher war. Im Zweifelsfall ist es am besten, sich an die Klugen und Vorsichtigen zu halten, da diese früher oder später das Glück einholen.

32
Im Rufe der Gefälligkeit stehen

Das Ansehen derer, die am Staatsruder stehen, gewinnt sehr dadurch, daß sie entgegenkommend sind; Huld ist jene Eigenschaft der Herrscher, durch die sie allgemeine Gunst erringen. Der einzige Vorzug, den höchste Macht gibt, ist, daß einer mehr Gutes tun kann als jeder andere. Freunde sind die, welche Freundschaft erweisen. Dagegen gibt es andere, die es darauf anlegen, ungefällig zu sein, nicht so sehr aus Bequemlichkeit, sondern aus Tücke; sie sind ganz und gar das Gegenteil der göttlichen Milde.

33
Sich zu entziehen wissen

Wenn eine große Lebensregel die ist, daß man nein zu sagen verstehe, so folgt daraus, daß es noch wichtiger ist, sich selbst gewissen Personen und Geschaften verweigern zu können. Es gibt Beschäftigungen, die einem wie Motten den Teppich der Zeit zerstören. Sich mit etwas Ungehörigem beschaftigen ist schlimmer als Nichtstun. Für den Umsichtigen genügt es nicht, daß er selber nicht zudringlich sei, sondern er sorge dafür, daß sich andere nicht aufdrängen. So sehr darf man nicht allen angehören, daß man nicht mehr sich selber angehörte. Ebenso darf man auch seinerseits nicht seine Freunde mißbrauchen, und nicht mehr von ihnen verlangen, als sie eingeräumt haben. Jedes Übermaß ist fehlerhaft, aber am meisten im Umgang. Mit kluger Mäßigung wird man sich am besten die Gunst und Wertschätzung aller erhalten, weil alsdann der so kostbare Anstand nicht allmählich beiseite gesetzt wird. Man erhalte sich also die Freiheit seiner Sinnesart, liebe innig das Auserlesene jeder Gattung und tue nie der Aufrichtigkeit seines guten Geschmackes Gewalt an.

34
Seine vorherrschende Fähigkeit kennen,

sein hervorstechendes Talent; sodann dieses ausbilden und den übrigen nachhelfen. Jeder wäre in irgend etwas ausgezeichnet geworden, hätte er seinen Vorzug gekannt. Man beobachte also seine hervorstechenden Anlagen und verwende auf diese allen Fleiß. Bei einigen ist der Verstand, bei andern die Tapferkeit vorherrschend. Die meisten tun aber ihren Naturgaben Gewalt an und bringen es deshalb in nichts zur Überlegenheit. Das, was anfangs der Leidenschaft schmeichelte, wird von der Zeit zu spät als Irrtum aufgedeckt.

35
Nachdenken, und am meisten über das, was wesentlich ist

Weil sie nicht denken, gehen alle Dummköpfe zugrunde: sie sehen in den Dingen nie auch nur die Hälfte von dem, was da ist. Und da sie sich so wenig anstrengen, daß sie nicht einmal ihren eigenen Schaden oder Vorteil begreifen, legen sie großen Wert auf das, woran wenig, und geringen auf das, woran viel gelegen, stets verkehrt abwägend. Viele verlieren den Verstand deshalb nicht, weil sie keinen haben. Es gibt Sachen, die man mit der ganzen Anstrengung seines Geistes untersuchen und nachher in der Tiefe desselben aufbewahren soll. Der Kluge denkt über alles nach, wenn auch mit einem gewissen Unterschied: er vertieft sich da, wo er Grund und Widerstand findet, und denkt bisweilen, daß noch mehr da sei, als er sich vorzustellen vermag. Sein Nachdenken reicht dergestalt so weit wie seine Besorgnis.

36
Sein Glück abwägen,

wie weit man sich in eine Sache einlassen kann. Daran ist mehr gelegen als an der Beobachtung seines Temperaments. Ein Tor, der sich erst vom vierzigsten Jahr an den Gesundheitsregeln des Hippokrates unterwirft, ein noch ärgerer, wenn er erst so spät sich die Philosophen als Lehrer wählt. Es ist eine große Kunst, sein Glück selbst leiten zu können, indem man es einmal abwartet (denn auch mit Warten ist vieles auszurichten), dann wieder es zur rechten Zeit benutzt, da es bekanntlich Glücksperioden und ausgesprochene Glücksgelegenheiten gibt. Dem Glück seinen Gang abzulernen, erscheint allerdings hoffnungslos, denn unberechenbar sind seine Schritte. Wer unter einem glücklichen Aspekt steht, schreite keck vorwärts. Das Glück liebt die Kühnen leidenschaftlich, und - als ein schönes Weib - vor allem die Jünglinge. Wer aber im Unglück ist, tue vorerst nichts mehr, damit er nicht zu dem Unstern, der einmal über ihm steht, einen zweiten heranrufe.

37
Stichelreden kenn und anzuwenden verstehen

Dies ist der Punkt der größten Feinheit im Umgang mit dem Menschen. Stichelreden werden oft hingeworfen, um die Gemüter zu prüfen, und durch sie stellt man die versteckteste und zugleich eindringlichste Untersuchung des Herzens an. Anderer Art sind die boshaften, verwegenen, vom Gift des Neides angesteckten oder mit dem Geifer der Leidenschaft getränkten; diese sind oft unvorhergesehene Blitze, durch welche man aus aller Gunst und Hochachtung geschleudert wird. Von einem leichten Wörtchen dieser Art getroffen, sind manche aus dem engsten Vertrauen der höchsten oder geringerer Personen herabgestürzt, denen doch auch nur den mindesten Schreck zu erregen eine vollständige Verschwörung zwischen der Unzufriedenheit der Menge und der Bosheit der Einzelnen unvermögend gewesen war. Wieder eine andere Art von Stichelreden wirkt im entgegengesetzten Sinne, indem sie unser Ansehen stützt und befestigt. Allein mit derselben Geschicklichkeit, mit welcher die Absichtlichkeit sie schleudert, muß die Vorkehr sie empfangen, ja die Umsicht sie schon zum voraus erwarten. Denn hier beruht die Abwehr auf der Kenntnis des Übels, und der vorgesehene Schuß verfehlt jedesmal sein Ziel.

38
Vom Glücke beim Gewinnen scheiden:

so machen es alle Spieler von Ruf. Ein schöner Rückzug ist ebensoviel wert wie ein kühner Angriff. Man bringe seine Taten, wann ihrer genug, wann ihrer viele sind, in Sicherheit. Ein lange anhaltendes Glück ist allemal verdächtig: das unterbrochene ist sicherer und das Süßsaure desselben sogar dem Geschmack angenehmer. Je mehr sich Glück auf Glück häuft, desto mehr Gefahr laufen sie, auszugleiten und alle miteinander niederzustürzen. Die Höhe der Gunst des Glücks wird oft durch die Kürze seiner Dauer aufgewogen; das Glück wird es müde, einen lange auf den Schultern zu tragen.

39
Den Punkt der Reife an den Dingen kennen,

um sie dann zu genießen. Die Werke der Natur gelangen alle zu einem Gipfel der Vollkommenheit. Bis dahin nahmen sie zu, dann nehmen sie wieder ab. Unter denen der Kunst hingegen gibt es nur wenige, die so weit gebracht werden, daß sie keiner Verbesserung mehr bedürfen. Es ist ein Vorzug des guten Geschmacks, daß er jede Sache auf dem Punkte der Vollkommenheit genießt. Nicht alle können es, und die es könnten, verstehen es oftmals nicht. Sogar für die Früchte des Geistes gibt es einen solchen Punkt der Reife. Es ist wichtig, ihn zu kennen, für den, der sie genießt, gleichwie für den, der sie hervorbringt.

40
Gunst bei den Leuten

Allgemeine Bewunderung zu erlangen ist viel; mehr jedoch die allgemeine Liebe. In etwas hängt es von der Gunst der Natur, aber mehr noch von der Bemühung ab; jene legt den Grund, diese führt es aus. Ausgezeichnete Fähigkeiten reichen nicht hin, obgleich man sie voraussetzen muß; hat man einmal die Meinung gewonnen, so ist es leicht, auch die Zuneigung zu gewinnen. Sodann erwirbt man Wohlwollen nicht ohne Wohltun. Gutes tun mit beiden Handen; schöne Worte, noch bessere Taten, lieben, um geliebt zu werden! Höflichkeit ist die größte politische Zauberei der Großen. Erst strecke man seine Hand zu Taten aus und sodann nach den Federn; vom Stichblatt nach dem Geschichtsblatt; denn es gibt auch eine Gunst der Schriftsteller, und die macht unsterblich.

41
Nie übertreiben

Es sei ein wichtiger Gegenstand unserer Aufmerksamkeit, nicht in Superlativen zu reden; teils um nicht der Wahrheit zu nahe zu treten, teils um nicht unseren Verstand herabzusetzen. Übertreibungen sind Verschwendungen unserer Hochschätzung und zeugen von Beschränktheit der Kenntnisse und des Geschmacks. Lob erweckt lebhafte Neugierde, reizt das Begehren; wenn aber nachher, wie es oftmals geschieht, der Wert dem Preise nicht entspricht, so wendet sich die getäuschte Erwartung gegen den Betrug und rächt sich durch Geringschätzung des Gerühmten sowie des Rühmers. Daher gehe der Kluge zurückhaltend zu Werke und fehle lieber durch ein Zuwenig als durch ein Zuviel. Ganz außerordentliche Dinge sind außerordentlich selten, also mäßige man seine Wertschätzung. Jede Übertreibung ist der Lüge verwandt, man kommt dadurch um den Ruf des guten Geschmacks, was allein schon viel, und um den der Verständigkeit, was noch mehr ist.

42
Von angeborener Herrschaft

Sie ist die geheim wirkende Kraft der Überlegenheit. Nicht aus einer widerlichen Künstelei darf sie hervorgehen, sondern aus einer gebietenden Natur. Alle unterwerfen sich ihr, ohne zu wissen wie, indem sie die verborgene Macht natürlicher Autorität anerkennen. Diese gebietenden Geister sind Könige durch ihren Wert und Löwen kraft angeborenen Vorrechts. Durch die Hochachtung, die sie einflößen, nehmen sie Herz und Verstand der übrigen gefangen. Sind solchen nun auch die andern Fähigkeiten günstig, so sind sie geboren, die ersten Hebel der Staatsmaschine zu sein; sie wirken mehr durch eine Miene, als andere durch eine lange Rede.

43
Denken wie die wenigen und reden wie die meisten

Gegen den Strom schwimmen zu wollen, vermag keineswegs einen Irrtum zu zerstören, sehr wohl aber in Gefahr zu bringen. Nur ein Sokrates konnte es unternehmen. Von andrer Meinung abweichen, wird für Beleidigung gehalten; denn es ist ein Verdammen des fremden Urteils. Bald mehren sich die darob Verdrießlichen, teils wegen des getadelten Gegenstandes, teils um dessentwillen, der ihn gelobt hatte. Die Wahrheit ist für wenige, der Trug so allgemein wie gemein. Den Weisen wird man nicht an dem erkennen, was er auf dem Marktplatz redet, denn dort spricht er nicht mit seiner Stimme, sondern mit der der allgemeinen Torheit, so sehr auch sein Inneres sie verleugnen mag. Der Kluge vermeidet ebensosehr, daß man ihm, als daß er andern widerspreche. So bereit er zum Tadel ist, so zurückhaltend sei er in der Äußerung desselben. Das Denken ist frei, ihm kann und darf keine Gewalt geschehn. Daher zieht der Kluge sich zurück in das Heiligtum seines Schweigens; läßt er sich bisweilen aus, so geschieht es im engen Kreise Weniger und Verständiger.

44
Mit großen Männern sympathisieren

Es ist eine Eigenschaft der Heroen, mit Heroen übereinzustimmen. Hierin liegt ein Wunder der Natur sowohl wegen des Geheimnisvollen darin als auch wegen des Nützlichen. Es gibt eine Verwandtschaft der Herzen und Gemütsarten; ihre Wirkungen sind solche, wie die Unwissenheit des großen Haufens sie Zaubertränken zuschreibt. Sie bleibt nicht bei der Hochachtung stehn, sondern geht bis zum Wohlwollen, ja bis zur Zuneigung. Sie überredet ohne Worte und erlangt ohne Verdienst. Es gibt eine aktive und eine passive: beide sind heilbringend, und um so mehr, in je erhabenerer Gattung. Es zeigt von großer Geschicklichkeit, sie zu erkennen, zu unterscheiden und sie zu nutzen zuverstehen. Denn kein Eigensinn kann ohne diese geheime Gunst zum Zwecke führen.

45
Von der Schlauheit Gebrauch, nicht Mißbrauch machen

Man soll sich nicht in Schlauheit gefallen, noch weniger aber sie zeigen. Alles Künstliche muß verdeckt bleiben, vor allem wenn es sich um Vorsichtsmaßregeln handelt, denn dann wirkt es besonders unangenehm. Überall gibt es Betrüger, daher verdopple sich die Vorsicht, ohne sich jedoch offen zu zeigen. Verdacht kränkt, fordert zur Rache auf und führt zu Schlechtigkeiten, an die keiner vorher gedacht hatte. Mit Überlegung zu Werke gehen ist ein mächtiger Vorteil beim Handeln, und es gibt keinen sicheren Beweis von Vernunft. Der größte Erfolg bei Handlungen beruht auf der sicheren Meisterschaft, mit der man sie ausführt.

46
Seine Antipathie bemeistern

Oft verabscheuen wir auf den ersten Blick, ehe wir die Eigenschaften der fraglichen Personen kennengelernt haben. Bisweilen wagt dieser angebotene, pöbelhafte Widerwille sich selbst gegen die ausgezeichnetesten Männer zu regen. Klugheit werde Herr über ihn, denn nichts kann eine schlechtere Meinung von uns erzeugen, als daß wir die verabscheuen, die mehr wert sind als wir. So sehr die Sympathie mit großen Männern zu unserem Vorteil spricht, so sehr setzt die Antipathie gegen diese uns herab.

47
Ehrenaffären vermeiden:

einer der wichtigsten Gegenstände der Vorsicht. In Leuten von umfassendem Geiste liegen die Extreme stets sehr weit voneinander entfernt, so daß ein sehr langer Weg von einem zum anderen ist. Sie selbst aber halten sich immer im Mittelpunkt ihrer Klugheit, daher sie es nicht leicht zum Bruch kommen lassen. Denn es ist viel leichter, einer Gelegenheit dieser Art auszuweichen, als mit Glück daraus herauszukommen. Dergleichen sind Versuchungen unserer Klugheit, und es ist sicherer, sie zu fliehen, als in ihnen zu siegen. Eine Ehrenaffäre führt eine zweite und schlimmere herbei und dabei kann die Ehre oft sehr zu Schaden kommen. Es gibt Leute, die vermöge ihres eigentümlichen oder Nationalcharakters leicht Gelegenheit nehmen und geben und immer wieder geneigt sind, Verpflichtungen dieser Art einzugehen. Bei dem jedoch, der im Lichte der Vernunft wandelt, bedarf die Sache längerer Überlegung. Er sieht mehr Mut darin, sich nicht einzulassen, als zu siegen. Und wenn auch ein allezeit bereitwilliger Narr da ist, so bittet er um Entschuldigung, daß er nicht Lust habe, der andere Narr zu sein.

48
Gründlichkeit und Tiefe

Nur so weit man diese hat, kann man mit Ehren eine Rolle spielen. Stets muß das Innere noch einmal soviel sein als das Äußere. Dagegen gibt es Leute von bloßer Fassade, wie Häuser, die, weil die Mittel fehlten, nicht ausgebaut sind und den Eingang eines Palastes zum Wohnraum einer Hütte haben. An solchen ist gar nichts, wobei man lange weilen könnte, obwohl sie langweilig genug sind; denn, sind die ersten Begrüßungen zu Ende, so ist es auch die Unterhaltung. Mit den vorläufigen Höflichkeitsbezeugungen treten sie wohlgemut auf, aber gleich darauf versinken sie in Stillschweigen; die Worte versiegen bald, wo keine Quelle von Gedanken fließt. Andre, die selbst einen oberflächlichen Blick haben, werden leicht von diesen getäuscht. Nicht so die Schlauen: diese gehn aufs Innere und finden es leer, bloß zum Spotte gescheiter Leute tauglich.

49
Scharfblick und Urteil

Wer damit begabt ist, meistert die Dinge, nicht sie ihn; die größte Tiefe weiß er zu ergründen und die Fähigkeiten eines Kopfes auf das vollkommenste anatomisch zu zerlegen. Indem er einen Menschen sieht, versteht er ihn und beurteilt sein innerstes Wesen. Er macht feine Beobachtungen und versteht, das verborgenste Innere zu entziffern. Er bemerkt scharf, begreift gründlich und urteilt richtig. Alles entdeckt, sieht, faßt und versteht er.

50
Nie die Achtung gegen sich selbst aufgeben

und nie sich mit sich selbst gemein machen! Unsere eigene Makellosigkeit muß die Richtschnur für unseren untadelhaften Wandel sein, und die Strenge unseres eigenen Urteils muß mehr über uns vermögen als alle äußeren Vorschriften. Das Ungeziemende unterlasse man mehr aus Scheu vor unserer eignen Einsicht als aus Angst vor der strengsten fremden Autorität. Man gelange dahin, sich vor sich selbst zu fürchten.

51
Zu wählen wissen:

das meiste im Leben hängt davon ab. Es erfordert guten Geschmack und richtiges Urteil, denn weder Gelehrsamkeit noch Verstand allein reichen aus. Ohne Wahl keine Vollkommenheit; jene schließt in sich, daß man wählen könne, und zwar das Beste. Viele von fruchtbarem und gewandtem Geist, scharfem Verstande, voll der Gelehrsamkeit und Umsicht, gehen dennoch zugrunde - sie ergreifen allemal das Schlechteste, als legten sie es darauf an, irre zu gehen. Richtig zu wählen wissen ist daher eine der größten Gaben von Oben.

52 Nie aus der Fassung geraten

Ein Hauptpunkt der Klugheit, sich nie zu entrüsten. Nur ein ganzer Mann, begabt mit einem großen Herzen, bringt das zustande - denn alles Große ist schwer zu bewegen. Die Affekte sind die krankhaften Säfte der Seele, und an deren Übermaß erkrankt die Klugheit. Steigt gar das Übel zum Munde hinaus, dann läuft die Ehre Gefahr. Man sei daher so ganz Herr über sich und so groß, daß man weder im größten Glück noch im größten Unglück die Blöße einer Entrüstung gebe, vielmehr, als über jene erhaben, Bewunderung gebiete.

53
Tatkraft und Verstand

Was dieser ausführlich durchdacht hat, führt jene rasch aus. Eilfertigkeit ist eine Eigenschaft der Dummköpfe; weil sie den Punkt des Anstoßes nicht gewahr werden, gehn sie ohne Vorkehr zu Werke. Dagegen pflegen die Weisen eher durch Zurückhaltung zu fehlen, denn das Vorhersehen gebiert Vorkehrungen, und so vereitelt Mangel an Tatkraft bisweilen die Früchte des richtigen Urteils. Schnelligkeit ist die Mutter des Glücks. Wer nichts auf morgen ließ, hat viel getan. Eile mit Weile war ein echt kaiserlicher Wahlspruch.

54
Haare auf den Zähnen haben

Den toten Löwen zupfen sogar die Hasen an der Mähne. Mit der Tapferkeit läßt sich nicht Scherz treiben. Gibst du dem ersten nach, so mußt du es auch dem andern, und so bis zum letzten; und spät zu siegen, hast du dieselbe Mühe, die dir gleich anfangs vielmehr genutzt hätte. Der geistige Mut übertrifft die körperliche Kraft: er sei ein Schwert, das stets in der Scheide der Klugheit ruht, für die Gelegenheit bereit. Er ist der Schirm der Person. Geistige Schwäche setzt mehr herab als die körperliche. Viele hatten außerordentliche Fähigkeiten, aber weil es ihnen an Herz fehlte, lebten sie wie Tote und endigten begraben in ihrer Untätigkeit. Nicht ohne Absicht hat die sorgsame Natur in der Biene die Süße des Honigs mit der Schärfe des Stachels verbunden. Sehnen und Knochen hat der Leib; so sei der Geist auch nicht lauter Sanftmut.

55
Warten können

Es zeugt von einem großen Herzen mit Reichtum an Geduld, wenn man nie in eiliger Hitze, nie leidenschaftlich ist. Erst sei man Herr über sich, dann wird man es nachher über andere sein. Nur durch die weiten Räume der Zeit gelangt man zum Mittelpunkt der Gelegenheit. Weise Zurückhaltung bringt die richtigen, lange geheimzuhaltenden Beschlüsse zur Reife. Die Krücke der Zeit richtet mehr aus als die eiserne Keule des Herkules. Gott selbst züchtigt nicht mit dem Knüttel, sondern mit der Zeit. Es war ein großes Wort: „Die Zeit und ich nehmen es mit zwei anderen auf." Das Glück selbst krönt das Warten durch die Größe des Lohns .

56
Geistesgegenwart haben

Sie entspringt aus einer glücklichen Wendigkeit des Geistes. Für sie gibt es keine Gefahren noch Unfälle kraft ihrer Lebendigkeit und Aufgewecktheit. Manche denken viel nach und verfehlen nachher alles - andere treffen alles, ohne es vorher überlegt zu haben. Es gibt Genies der Improvisation, die erst in der Klemme erfolgreich werden; sie sind eine Art Ungeheuer, denen aus dem Stegreif alles, mit Überlegung nichts gelingt. Was ihnen nicht gleich einfällt, finden sie nie. In ihrem Kopfe gibt es keinen Appellationshof. Die Raschen also erlangen Beifall, weil sie den Beweis einer gewaltigen Fähigkeit durch Feinheit im Denken und Klugheit im Tun ablegen.

57
Sicherer sind die Überlegten;

schnell genug geschieht, was gut geschieht. Was sich auf der Stelle macht, kann auch auf der Stelle wieder zunichte werden; aber was eine Ewigkeit dauern soll, braucht auch eine, um zustande zu kommen. Nur die Vollkommenheit gilt, und nur das Gelungene hat Dauer. Verstand und Gründlichkeit schaffen unsterbliche Werke. Was viel wert ist, kostet viel. Ist doch das edelste Metall das schwerste.

58
Sich anzupassen verstehen

Nicht allen soll man auf gleiche Weise seinen Verstand zeigen, und nie mehr Kraft verwenden, als grade nötig ist. Nichts werde verschleudert, weder vom Wissen noch vom Leisten. Der gescheite Falkonier läßt nicht mehr Vögel steigen, als die Jagd erfordert. Man stelle nicht immer alles zur Schau, sonst wird es morgen keiner mehr bewundern. Immer habe man etwas Neues, damit zu glänzen; wer jeden Tag mehr aufdeckt, unterhält die Erwartung, und nie werden Grenzen seiner großen Fähigkeiten aufgefunden.

59
Das Ende bedenken

Wenn man in das Haus des Glücks durch die Pforte des Jubels eintritt, so wird man durch die des Wehklagens wieder heraustreten; und umgekehrt. Daher soll man auf das Ende bedacht sein, und seine Sorgfalt mehr auf ein glückliches Abgehn, als auf den Beifall beim Auftreten richten. Es ist das gewöhnliche Los der Unglückskinder, einen gar fröhlichen Anfang, aber ein sehr tragisches Ende zu erleben. Das so gemeine Beifallsklatschen beim Auftreten ist nicht die Hauptsache, allen wird es zuteil; das allgemeine Gefuhl, das sich bei unserm Abtreten äußert, ist entscheidend. Denn die Zurückgewünschten sind selten. Wenige geleitet das Glück bis an die Schwelle: so höflich es gegen die Ankommenden zu sein pflegt, so schnöde gegen die Abgehenden.

60
Gesundes Urteil

Einige werden klug geboren: mit diesem Vorteil ihrer Natur treten sie an die Studien, und so ist ihnen die Hälfte des Weges zum Gelingen vorausgegeben. Wenn nun Alter und Erfahrung ihre Vernunft völlig zur Reife gebracht haben, gelangen sie zu einem vollgültigen und richtigen Urteil. Sie verabscheuen eigensinnige Grillen jeder Art, als Verführerinnen der Klugheit, zumal in Staatsangelegenheiten, die, wegen ihrer hohen Wichtigkeit, vollkommene Sicherheit erfordern. Solche Leute verdienen am Staatsruder zu stehen - sei es zur Lenkung, sei es zum Rat.

61
Das Höchste, in der höchsten Gattung:

ein ganz einziger Vorzug bei der Menge und Verschiedenheit der Vollkommenheiten. Es kann keinen großen Mann geben, der nicht in irgend etwas alle anderen überträfe. Mittelmäßigkeiten sind kein Gegenstand der Bewunderung. Höchste Trefflichkeit in einem hervorstechenden Berufe kann allein uns aus der Menge der Gewöhnlichen herausheben und unter die Zahl der Seltenen versetzen. Ausgezeichnet sein in einem geringeren Berufe heißt etwas sein in dem, was wenig ist. Was es an Angenehmen voraushaben mag, büßt es an Rühmlichem ein. Das Höchste leisten und in der vorzüglichsten Gattung, drückt uns gleichsam einen Souveränitätscharakter auf, gebietet Bewunderung und gewinnt die Herzen.

62
Sich guter Werkzeuge bedienen

Einige versuchen, durch die Minderwertigkeit ihrer Werkzeuge ihren besonderen Scharfsinn zu betonen - eine gefährliche Genugtuung, welche vom Schicksal eine Züchtigung verdient. Nie hat die Trefflichkeit eines Ministers die Größe seiner Herren verringert, vielmehr fällt der Ruhm des Gelungenen stets auf den Urheber zurück, wie auch beim Gegenteil der Tadel. Die Fama hält sich immer an die Hauptpersonen; sie sagt nie: der hatte gute, jener schlechte Diener - sondern: der war ein guter, dieser ein schlechter Künstler. Also wähle und prüfe man, denn einen unvergänglichen Ruhm hat man in ihre Hände zu legen.

63
Es ist ein großer Ruhm, der Erste in der Art zu sein,

und zweifach, wenn Vortrefflichkeit dazu kommt. Großen Vorteil hat der Bankhalter, der mit den Karten in der Hand spielt: er gewinnt, wenn die Partie gleich ist. Mancher wäre ein Phönix in seinem Beruf gewesen, hätte er keine Vorgänger gehabt. Die Ersten jeder Art gehen mit dem Majorat des Ruhms davon; den übrigen bleiben eingeklagte Alimente. Was immer sie auch tun mögen, sie können den gemeinen Flecken, Nachahmer zu sein, nicht abwaschen. Nur der Scharfsinn außerordentlicher Geister bricht neue Bahnen zur Auszeichnung, und zwar so, daß für die Gefahr dabei die Klugheit gutsagt. Durch die Neuheit ihres Unternehmens haben Weise einen Platz in der Matrikel der großen Manner erworben. Manche mögen lieber die Ersten in der zweiten Klasse als die Zweiten in der der ersten sein.

64
Übel vermeiden und sich Verdrießlichkeiten sparen, ist eine lohnende Klugheit

Vielem weiß die Vorsicht aus dem Wege zu gehen; sie ist die Lichtgöttin des Glücks und dadurch der Zufriedenheit. Schlimme Nachrichten soll man nicht überbringen, noch weniger empfangen: den Eingang soll man ihnen untersagen, wenn es nicht der der Hilfe ist. Einige haben nur für die Süßigkeit der Schmeicheleien Ohren; andere nur für die Bitterkeit der üblen Nachrede. Manche können nicht ohne einen täglichen Ärger leben, wie Mithridat nicht ohne Gift. Ebenfalls ist es keine Regel der Selbsterhaltung, daß man sich eine Betrübnis auf Lebenszeit bereite, um einem andern, und stände er uns noch so nahe, einmal einen Gefallen zu tun. Nie soll man gegen seine eigene Wohlfahrt sündigen, um dem zu gefallen, der seinen Rat erteilt und aus dem Handel herausbleibt. Und bei jeder Begebenheit, da dem anderen eine Freude sich selber einen Schmerz bereiten hieße, halte man sich an die Regel: besser er ist im Augenblick betrübt als du später und ohne Abhilfe.

65
Erhabener Geschmack

Geschmack ist der Bildung fähig wie der Verstand. Je mehr Einsicht, desto größere Anforderungen, und, werden sie erfüllt, desto mehr Genuß. Einen hohen Geist erkennt man an der Erhabenheit seiner Neigung; ein großer Gegenstand muß es sein, der eine große Fähigkeit befriedigt. Wie große Bissen für einen großen Mund, so sind erhabene Dinge für erhabene Geister. Die trefflichsten Gegenstände scheuen ihr Urteil und die sichersten Vollkommenheiten verläßt das Selbstvertrauen. Unübertreffliche Dinge gibt es wenige, daher sei die unbedingte Hochachtung selten. Durch fortgesetzten Umgang teilt sich der Geschmack allmählich mit, weshalb es ein besonderes Glück ist, mit Leuten von richtigem Geschmack umzugehen. Andererseits soll man nicht ein Gewerbe daraus machen, mit allem unzufrieden zu sein, was ein höchst dummes Extrem ergäbe und ein abscheuliches dazu, wenn es aus Affektation geschieht. Einige möchten gar, daß Gott eine neue Welt mit ganz anderen Vollkommenheiten schüfe, nur damit ihrer ausschweifenden Phantasie Genüge getan werde.

66
Den glücklichen Ausgang im Auge behalten

Manche setzen sich mehr die strenge Richtigkeit der Maßregeln zum Ziel als das glückliche Erreichen des Zwecks; allein stets wird, in der öffentlichen Meinung, die Schmach des Mißlingens die Anerkennung ihrer sorgfältigen Mühe überwiegen. Wer gesiegt hat, braucht keine Rechenschaft abzulegen. Die genaue Beschaffenheit der Umstände können die Meisten nicht sehn, sondern bloß den guten oder schlechten Erfolg; daher wird man nie in der Meinung verlieren, wenn man seinen Zweck erreicht. Ein gutes Ende übergoldet alles, wie sehr auch immer das Unpassende der Mittel dagegen sprechen mag. Zuzeiten besteht die Kunst darin, daß man gegen die Regeln der Kunst verfährt, wenn ein glücklicher Ausgang anders nicht zu erreichen steht.

67
Beifällige Ämter vorziehen

Die meisten Dinge hängen von fremder Gunst ab. Die Wertschätzung ist für die Talente, was der Wert für die Blumen: Atem und Leben. Es gibt Ämter und Beschäftigungen, die sich allgemeiner Wertschätzung erfreuen, und andre, die zwar wichtiger, jedoch wenig beliebt sind. Jene erlangen die allgemeine Gunst, weil sie vor den Augen aller ausgeübt werden; diese, wenn sie gleich mehr vom Seltenen und Wertvollen an sich haben, bleiben in ihrer Zurückgezogenheit unbeachtet, zwar geehrt, aber ohne Beifall. Unter den Fürsten sind die siegreichen die berühmten; deshalb standen die Könige von Aragon in so hohen Ehren, als Krieger, Eroberer, große Männer. Der begabte Mann ziehe die gepriesenen Ämter vor, die allen sichtbar sind und deren Einfluß sich auf alle erstreckt: dann wird die Allgemeinheit ihm unvergänglichen Ruhm verleihen.

68
Es ist von höherem Wert, Verstand als Gedächtnis zu leihen:

um so viel, wie man bei diesem nur zu erinnern, bei jenem aufzufassen hat. Manche unterlassen Dinge, die gerade an der Zeit waren, weil solche sich ihnen nicht darbieten; dann helfe eines Freundes Umsicht auf die Spur des Passenden. Einer der größten Glücksfälle ist der, daß sich jemandem gerade das bietet, was im Augenblick nottut; weil es daran fehlt, unterbleiben gar mancherlei Dinge, die sonst gelungen wären. Teile sein Licht mit, wer es hat, und bewerbe sich darum, wer dessen bedarf: jener mit Zurückhaltung, dieser mit Aufmerksamkeit. Man gebe nicht mehr als ein Stichwort. Diese Feinheit ist nötig, wenn der Nutzen des Erweckenden irgend mit im Spiel ist; man zeige seine Bereitwilligkeit und gehe weiter, wenn mehr verlangt wird. Hat man das Nein, so suche man das Ja zu finden, mit Geschick. Das Meiste wird nur deshalb nicht erreicht, weil es nicht unternommen wird.

69
Sich nicht gemeiner Launenhaftigkeit hingeben

Der ist ein großer Mann, welcher nie von fremdartigen Eindrücken bestimmt wird. Beobachtung seiner selbst ist eine Schule der Weisheit. Man kenne seine gegenwärtige Stimmung und baue ihr vor. Ja, man werfe sie auf das entgegengesetzte Extrem, um zwischen Natürlichem und Künstlichem den Punkt zu treffen, wo auf der Waage der Vernunft die Zunge einsteht. Der Anfang der Selbstbesserung ist die Selbsterkenntnis. Es gibt Selbstquäler der Verstimmtheit. Immer unterliegen sie irgendeiner Laune, und mit dieser wechseln sie ihre Neigungen. Immerwährend von einer niederträchtigen Verstimmung am Seile geschleppt, werden sie richtungslos. Nicht bloß den Willen verdirbt solch ausschweifender Hang, auch an den Verstand wagt er sich. Wollen und Erkennen wird durch ihn verschroben.

70
Abzuschlagen verstehn

Nicht allen und nicht alles darf man zugestehn. Das ist ebenso notwendig, wie daß man zu bewilligen wisse. Besonders für Mächtige ist diese Maxime wichtig: hier kommt viel auf die Art an. Das Nein des einen wird höher geschätzt als das Ja manch anderer. Ein vergoldetes Nein befriedigt mehr als ein trockenes Ja. Viele gibt es, die immer das Nein im Munde haben, wodurch sie den Leuten alles verleiden. Das Nein ist bei ihnen immer das Erste: und wenn sie auch nachher alles bewilligen, so schätzt man es nicht, weil es durch jenes schon verleidet ist. Man soll nichts gleich rund abschlagen, vielmehr lasse man die Bittsteller Zug vor Zug von ihrer Selbsttäuschung zurückkommen. Auch soll man nie erwas ganz und gar verweigern, denn das hieße jenen die Abhängigkeit aufkündigen. Man lasse immer noch ein wenig Hoffnung übrig, die Bitterkeit der Weigerung zu versüßen. Endlich fülle man durch Höflichkeit die Lücke aus, welche die Gunst hier läßt, und setze schöne Worte an die Stelle der Werke. Ja und nein sind schneller gesagt, erfordern aber langes Nachdenken.

71
Nicht ungleich sein,

nicht widersprechend in seinem Benehmen, weder von Natur noch aus Affektation. Ein verständiger Mann ist stets derselbe und erhält sich dadurch den Ruf der Gescheitheit; Veränderungen können bei ihm nur aus äußern Ursachen oder fremden Verdiensten entstehn. In Sachen der Klugheit ist Abwechselung eine Häßlichkeit. Es gibt Leute, die alle Tage anders sind, sogar ihr Verstand ist ungleich, noch mehr ihr Wille und so bis auf ihr Glück. Was gestern das Weiße ihres Ja war, ist heute das Schwarze ihres Nein. So arbeiten sie beständig ihrem eigenen Kredit und Ansehn entgegen und verwirren die Begriffe der andern.

72
Ein Mann von Entschlossenbeit

Schlechte Ausführung ist nicht so verderblich wie Unentschlossenheit. Flüssigkeiten verderben weniger, so lange sie fließen, als wenn sie stocken. Es gibt entschlußunfähige Leute, die stets eines fremden Antriebes bedürfen. Bisweilen entspringt dies weniger einer verworrenen Urteilskraft, die oftmals sehr hell sein kann, als einem Mangel an Energie. Schwierigkeiten auffinden beweist Scharfsinn; noch größeren jedoch das Auffinden der Auswege aus ihnen. - Andere hingegen gibt es, die nichts in Verlegenheit setzt: von umfassendem Verstande und entschlossenem Charakter, sind sie für die höchsten Stellen geboren, denn ihr aufgeweckter Kopf fördert den Geschäftsgang und erleichtert das Gelingen. Gleich sind sie mit allem fertig; und haben sie einer Welt Rede gestanden, so bleibt ihnen noch Zeit für eine zweite übrig. Haben sie erst vom Glück Handgeld erhalten, so greifen sie mit größerer Sicherheit in die Geschäfte.

73
Vom Übersehen Gebrauch zu machen wissen

So helfen sich kluge Leute aus Verwicklungen. Mit dem leichten Anstand einer witzigen Wendung kommen sie aus dem verworrensten Labyrinth. Aus dem schwierigsten Streite schlüpfen sie artig und mit Lächeln. Der größte aller Feldherren (Alexander) setzte darin seinen Wert. Wo man etwas abzuschlagen hat, ist es eine höfliche List, das Gespräch auf andere Dinge zu lenken; und keine größere Feinheit gibt es als - nicht zu verstehen.

74
Nicht von Stein sein

In den bevölkertsten Orten hausen die wirklich wilden Tiere. Die Unzugänglichkeit ist ein Fehler, der aus dem Verkennen seiner selbst entspringt: da verändert man mit dem Stande den Charakter. Es ist kein passender Weg zur allgemeinen Hochachtung, daß man damit anfängt, allen ärgerlich zu sein. Ein sehenswertes Schauspiel ist ein unzugängliches Ungeheuer, stets von seiner trotzenden Inhumanität besessen; die Abhängigen, deren hartes Schicksal will, daß sie mit ihm zu reden haben, treten ein, wie zum Kampf mit einem Tiger, gerüstet mit Behutsamkeit und voll Furcht. Solche Leute wußten, um zu ihren Stellungen zu gelangen, sich bei allen beliebt zu machen. Und jetzt, da sie solche innehaben, suchen sie sich dadurch zu entschädigen, daß sie sich allen verhaßt machen. Vermöge ihres Amtes sollen sie für viele da sein, sind aber, aus Trotz oder Stolz, für keinen da. Eine feine Züchtigung für sie ist, daß man sie stehn lasse, indem man ihnen dem Umgang und mit diesem die Kugheit entzieht.

75
Sich ein heroisches Vorbild wählen,

mehr zum Wetteifer als zur Nachahmung. Es gibt Muster der Größe, lebendige Bücher der Ehre. Jeder stelle sich die Größen in seinem Berufe vor, nicht sowohl um ihnen nachzuahmen als zur Anspornung. Alexander weinte nicht über den begrabenen Achilles, sondern über sich, dessen Ruhm noch nicht recht auf die Welt gekommen war. Nichts erweckt so sehr den Ehrgeiz im Herzen als die Posaune fremden Ruhms. Eben das, was den Neid zu Boden wirft, ermutigt ein edles Gemüt.

76
Nicht immer Scherz treiben

Der Verstand eines Mannes zeigt sich im Ernsthaften, welches daher mehr Ehre bringt als das Witzige. Wer immer scherzt, ist nie der Mann für ernste Dinge. Man stellt ihm dem Lügner gleich, da man beiden nicht glaubt, denn beim einen besorgt man Lügen, beim anderen Possen. Nie weiß man, ob er bei Vernunft spricht, was so viel ist, als hätte er keine. Nichts geziemt sich weniger als beständiges Schäkern. Manche erwerben sich den Ruf, witzige Köpfe zu sein, auf Kosten des Kredits, für gescheite Leute zu gelten. Sein Weilchen mag der Scherz haben, alle übrige Zeit gehöre dem Ernst.

77
Sich allen fügen zu wissen

- ein kluger Proteus: gelehrt mit dem Gelehrten, heilig mit den Heiligen. Eine große Kunst, um alle zu gewinnen: denn Übereinstimmung erwirbt Wohlwollen. Man beobachte die Gemüter und stimme sich nach dem eines jeden. Man lasse sich vom Ernsten und vom Jovialen mit fortreißen, indem man eine politische Verwandlung mit sich vornimmt. Abhängigen Personen ist diese Kunst dringend nötig, aber als große Feinheit erfordert sie viel Talent. Weniger schwer wird sie dem Mann, dessen Kopf in Kenntnissen und dessen Geschmack in Neigungen vielseitig ist.

78
Kunst im Unternehmen

Die Dummheit fällt allemal mit der Türe ins Haus, denn alle Dummen sind verwegen. Dieselbe Einfalt, welche ihnen die Aufmerksamkeit, Vorkehrungen zu treffen, benimmt, macht sie nachher gefühllos gegen den Schimpf des Mißlingens. Hingegen gehen die Klugen mit großer Vorsicht zu Werke. Ihre Kundschafter sind Aufpassen und Behutsamkeit. Diese gehen forschend voran, damit man ohne Gefahr auftreten könne. Jede Verwegenheit ist von der Klugheit zum Untergange verurteilt, wenn auch bisweilen Glück sie begnadigt. Mit Zurückhaltung muß man vorschreiten, wo tiefer Grund zu fürchten ist. Die Schlauheit gehe prüfend voran, bis die Vorsicht allmählich Boden gewinnt. Heutzutage sind im Umgang mit Menschen große Untiefen; man muß bei jedem Schritt das Senkblei auswerfen.

79
Joviales Gemüt:

wenn mit Mäßigung, ist es eine Gabe, kein Fehler. Ein Gran Munterkeit würzt alles. Die größten Männer treiben bisweilen Possen, und es macht sie bei allem beliebt. Jedoch verlieren sie dabei nie die Rücksichten der Klugheit noch die Achtung vor dem Anstand aus den Augen. Andere wiederum helfen sich durch einen Scherz auf dem kürzesten Wege aus Verwicklungen, denn es gibt Dinge, die man als Scherz nehmen muß, und bisweilen sind es grade die, welche der andere am ernstlichsten gemeint hat. Man legt dadurch Friedfertigkeit an den Tag, die ein Magnet der Herzen ist.

80
Bedacht im Erkundigen

Man lebt hauptsächlich auf Erkundigung. Das Wenigste ist, was wir sehn; wir leben auf Treu und Glauben. Nun ist aber das Ohr die Nebentüre der Wahrheit, die Haupttüre der Lüge. Die Wahrheit wird meistens gesehn, nur ausnahmsweise gehört. Selten gelangt sie rein und unverfälscht zu uns, am wenigsten, wenn sie von weitem kommt: da hat sie immer eine Beimischung von den Affekten, durch die sie ging. Die Leidenschaft färbt alles, was sie berührt, mit ihren Farben, bald günstig, bald ungünstig. Sie bezweckt immer irgendeinen Eindruck. Daher leihe man nur mit großer Behutsamkeit sein Ohr dem Lober, mit noch größerer dem Tadler. In diesem Punkt ist unsre ganze Aufmerksamkeit vonnöten, damit wir die Absicht des Vermittelnden herausfinden und schon zum voraus sehn, mit welchem Fuß er vortritt. Die schlaue Überlegung sei der Prüfstein des Übertriebenen und des Falschen.

81
Seinen Glanz erneuern:

es ist das Vorrecht des Phönix. Die Vortrefflichkeiten werden alt und mit ihnen der Ruhm. Mittelmäßiges Neues sticht oft das Ausgezeichnete aus, wenn dieses alt geworden. Man bewirke also seine Wiedergeburt, in der Tarpferkeit, im Genie, im Glück, in allem. Man trete mit neuen, glänzenden Sachen hervor und gehe gleich der Sonne täglich von neuem auf. Auch wechsle man den Schauplatz seines Glanzes, damit hier das Entbehren Verlangen, dort die Neuheit Beifall erwecke.

82
Nicht bis zur Neige leeren:

weder das Schlimme noch das Gute. Aristoteles führte auf Mäßigung die gesamte Weisheit zurück. Das größte Recht wird zum Unrecht; drückt man eine Orange zu sehr, so gibt sie zuletzt das Bittere. Auch im Genuß gehe man nie aufs äußerste. Sogar der Geist wird stumpf, wenn man ihn bis aufs letzte anstrengt. Blut statt Milch erhält, wer auf eine grausame Weise abzapft.

83
Sich verzeihliche Fehler erlauben:

eine Nachlässigkeit ist zuweilen die größte Empfehlung der Talente. Der Neid übt ein niederträchtiges, frevelhaftes Richteramt aus. Dem ganz Vollkommenen wird dann zum Fehler angerechnet, daß keine Fehler zu entdecken sind, und er wird als ganz vollkommen ganz verurteilt. Er wird zum Spion, um am Vortrefflichen Makel zu suchen, wenn auch nur zum eigenen Trost. Der Tadel trifft wie der Blitz gerade die höchsten Leistungen. Daher schlafe Homer bisweilen, und man affektiere einige Nachlässigkeiten, sei es im Genie, sei es in der Tapferkeit - jedoch nie in der Klugheit - um das Mißwollen zu besänftigen, daß es nicht berste vor Gift. Man werfe gleichsam dem Stier des Neides den Mantel zu, um die Unsterblichkeit zu retten.

84
Von den Feinden Nutzen ziehen

Man muß alle Sachen anzufassen verstehen, aber nicht bei der Schneide, wo sie verletzen, sondern beim Griff, wo sie beschützen; am meisten aber das Treiben der Widersacher. Dem Klugen nutzen seine Feinde mehr als dem Dummen seine Freunde. Das Mißwollen ebnet oft Berge von Schwierigkeiten, mit welchen es aufzunehmen die Gunst sich nicht getraute. Vielen haben ihre Größe ihre Feinde auferbaut. Gefährlicher als der Haß ist die Schmeichelei, weil diese die Flecken verhehlt, die jener auszulöschen arbeitet. Der Kluge macht aus dem Groll einen Spiegel, welcher treuer ist als der der Zuneigung, und beugt dann der Nachrede seiner Fehler vor, oder bessert sie. Denn die Behutsamkeit wird groß, wenn Nebenbuhlerei und Mißwollen die Grenznachbarn sind.

85
Nicht unaufhörlich die Stichkarte sein

Es ist ein Gebrechen alles Vortrefflichen, daß sein häufiger Gebrauch zum Mißbrauch wird. Gerade das Streben aller danach führt zuletzt dahin, daß es allen zum Ekel wird. Zu nichts zu taugen, ist ein großes Unglück; ein noch größeres aber, zu allem taugen zu wollen: solche Leute verlieren durch zu vieles Gewinnen, und werden zuletzt allen so sehr zum Abscheu, wie sie anfangs begehrt waren. Diese Trumpfkarten nutzen die Vollkommenheiten jeder Art an sich ab. Nachdem sie aufgehört haben, als selten geschätzt zu werden, werden sie als gemein verachtet. Das einzige Mittel gegen ein solches Extrem ist, daß man im Glänzen Maß halte; das Übermäßige sei in der Vollkommenheit selbst; im Zeigen derselben aber sei Mäßigung. Je mehr eine Fackel leuchtet, desto mehr verzehrt sie sich und verkürzt ihre Dauer. Kargheit im Sichzeigen erhält erhöhte Wertschätzung zum Lohn.

86
Übler Nachrede vorbeugen

Der große Haufen hat viele Köpfe und folglich viele Augen zur Mißgunst und viele Zungen zur Verunglimpfung. Geschieht es, daß unter ihm irgendeine üble Nachrede in Umlauf kommt, so kann das größte Ansehen darunter leiden. Wird solche gar zu einem gemeinen Spitznamen, so kann sie die Ehre untergraben. Den Anlaß gibt meist irgendein hervorstechender Übelstand, ein lächerlicher Fehler, wie denn dergleichen der passendste Stoff für ein Geschwätz ist. Oft aber auch ist es die Tücke einzelner, die der allgemeinen Bosheit Verunglimpfung zuführt. Denn es gibt Lastermäuler, die guten Ruf schneller durch ein Witzwort zugrunderichten als durch einen offen hingeworfenen, frechen Vorwurf. Man kommt gar leicht in schlechten Geruch, weil das Schlechte sehr glaublich ist; sich reinwaschen aber hält schwer. Der kluge Mann vermeide also Unfälle und stelle der Unverschämtheit des gemeinen Haufens seine Wachsamkeit entgegen. Leichter ist das Verhüten als die Abhilfe.

87
Bildung und Eleganz

Der Mensch wird als ein Barbar geboren und nur die Bildung befreit ihn von der Bestialität. Die Bildung macht den Mann, und um so mehr, je höher sie ist. Kraft derselben durfte Griechenland die ganze übrige Welt Barbaren heißen. Unwissenheit ist roh; nichts bildet mehr als Wissen. Jedoch das Wissen selbst ist ungeschlacht, wenn es ohne Eleganz ist. Nicht allein unsre Kenntnisse müssen elegant sein, sondern auch unser Wollen und zumal unser Reden. Es gibt Leute von natürlicher Eleganz, von innerer und äußerer Zierlichkeit, im Denken, im Reden, im Putz des Leibes, welcher der Rinde zu vergleichen ist, wie die Talente des Geistes der Frucht. Andre dagegen sind so ungehobelt, daß alles, was an ihnen ist, ja zuweilen ausgezeichnete Trefflichkeiten, abstoßende Ungeschlachtheit verunstaltet .

88
Das Betragen sei großartig, Erhabenheit anstrebend

Der große Mann darf nicht kleinlich in seinem Verfahren sein. Nie soll man in seinen Angelegenheiten zu sehr ins Einzelne gehn, am wenigsten, wenn sie verdrießlicher Art sind; denn obschon es ein Vorteil ist, alles gelegentlich zu bemerken, so ist es doch keiner, alles absichtlich untersuchen zu wollen. Gewöhnlich gehe man mit einer edlen Allgemeinheit zu Werke, die zum vornehmen Anstand gehört. Bei der Lenkung anderer ist eine Hauptsache das Nicht-sehen-wollen. Die meisten Dinge muß man unbeachtet hingehen lassen, zwischen Verwandten, Freunden und zumal zwischen Feinden. Alles Übermaß ist widerlich, am meisten bei verdrießlichen Dingen. Das abermals und immer wieder auf einen Verdruß Zurückkommen ist eine Art Verrücktheit. Das Betragen eines jeden wird gemeiniglich so ausfallen, wie sein Herz und sein Verstand beschaffen sind.

89
Kenntnis seiner selbst,

an Sinnesart, an Geist, an Urteil, an Neigungen. Keiner kann Herr über sich selbst sein, wenn er sich nicht zuvor begriffen hat. Spiegel gibt es für das Antlitz, aber keine für die Seele, daher sei ein solcher das verständige Nachdenken über sich. Allenfalls vergesse man sein äußeres Bild, aber erhalte sich das innere gegenwärtig, um es zu verbessern, zu vervollkommnen. Man lerne die Kräfte seines Verstandes und seine Fähigkeit zu Unternehmungen kennen. Man untersuche seine Tapferkeit, bevor man sich in Händel einläßt. Man ergründe seine ganze Tiefe und wage seine sämtlichen Fähigkeiten, zu allem.

90
Kunst, lange zu leben

Gut leben. Zwei Dinge werden schnell mit dem Leben fertig: Dummheit und Liederlichkeit. Die einen verlieren es, weil sie, es zu bewahren, nicht den Verstand, die anderen, weil sie nicht den Willen haben. Wie Tugend ihr eigener Lohn, ist Laster seine eigene Strafe. Wer hemmungslos dem Laster lebt, endigt bald, in zweifachem Sinn; wer eifrig der Tugend lebt, stirbt nie. Untadelhaftigkeit der Seele teilt sich dem Leibe mit; ein gut geführtes Leben wird nicht nur intensiv, sondern selbst extensiv ein langes sein.

91
Nie mit Skrupeln etwas beginnen

Die bloße Besorgnis des Mißlingens im Handelnden ist schon völlige Gewißheit beim Zuschauer, zumal wenn er ein Nebenbuhler ist. Wenn schon in der ersten Hitze des Unternehmens die Urteilskraft Zweifel hegte, so wird sie nachher, in leidenschaftslosem Zustand, das Verdammungsurteil offenbarer Torheit aussprechen. Handlungen, an deren Gelingen wir zweifeln, sind gefährlich, und es wäre besser, sie gleich zu unterlassen. Klugheit läßt sich nicht auf Wahrscheinlichkeiten ein; sie wandelt stets im hellen Mittagslichte der Vernunft. Wie soll ein Unternehmen gut ablaufen, dessen Entwurf schon die Besorgnis verurteilt? Und wenn die durchdachtesten, durch volle Zuversicht unsers Innern bestätigten Beschlüsse oft einen unglücklichen Ausgang nehmen; was haben solche zu erwarten, die bei schwankender Vernunft und Schlimmes ahnender Urteilskraft gefaßt wurden?

92
Überlegener Verstand

Ich meine, in allem. Die erste und höchste Regel in Handeln und im Reden (notwendiger je höher unsere Stellung ist) heißt: ein Gran Klugheit ist besser als ein Zentner Spitzfindigkeiten. Dabei wandelt man sicher, wenn auch nicht mit so lautem Beifall, obwohl der Ruf der Klugheit der Triumph des Ruhmes ist. Es sei hinlänglich, den Gescheiten genügt zu haben, deren Urteil der Probierstein gelungener Taten ist.

93
Universalität

Ein Mann, der alle Vollkommenheiten vereint, gilt für viele. Indem er den Genuß derselben seinem Umgange mitteilt, verschönert er das Leben. Abwechslung mit Vollkommenheit gewährt die beste Unterhaltung. Es ist eine große Kunst, sich alles Gute aneignen zu können. Und da die Natur aus dem Menschen, indem sie ihn so hoch stellte, einen Inbegriff ihrer ganzen Schöpfung gemacht hat, so mache ihn nun auch die Kunst zu einer kleinen Welt, durch Übung und Bildung des Verstandes und des Geschmacks.

94
Unergründlichkeit der Fähigkeiten

Der Kluge verhüte, daß man sein Wissen und sein Können bis auf den Grund ermesse, wenn er von allen verehrt sein will. Er lasse zu, daß man ihn kenne, aber nicht, daß man ihn ergründe. Keiner darf die Grenzen seiner Fähigkeiten auffinden können, wegen der augenscheinlichen Gefahr einer Enttäuschung. Nie gebe jemand Gelegenheit, daß einer ihm ganz auf den Grund komme. Denn größere Verehrung erregt die Mutmaßung über die Ausdehnung der Talente eines jeden als die genaue Kundschaft davon, so groß sie auch immer sein mögen.

95
Erwartung rege erhalten

Man muß stets Erwartung zu nähren wissen. Das Viele verspreche noch mehr, die glänzende Tat kündige noch glänzendere an. Man soll nicht seine ganze Kraft an den ersten Wurf setzen. Ein großer Kunstgriff ist, daß man sich zu mäßigen wisse in der Anwendung seiner Kräfte und seiner Bildung, so daß man immer mehr und mehr die Erwartungen befriedigen kann.

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Die große Obhut seiner selbst

Sie ist der Thron der Vernunft, die Grundlage der Vorsicht, und durch sie gelingt alles leicht. Sie ist eine Gabe des Himmels und als die erste und größte die wünschenswerteste. Sie ist das Hauptstück der Rüstung und von so großer Wichtigkeit, daß die Abwesenheit keines anderen den Mann unvollständig macht, sondern nur als ein Mehr oder Minder bemerkt wird. Alle Handlungen des Lebens hängen von ihrem Einfluß ab, und sie ist zu allem erfordert, denn alles muß mit Verstand geschehen. Sie besteht in einem natürlichen Hange zu allem, was der Vernunft am angemessensten ist, wodurch man in allen Fällen das Richtige ergreift.

97
Ruf erlangen und behaupten:

es ist die Benutzung der Fama. Der Ruf ist schwer zu erlangen, denn er entsteht nur aus ausgezeichneten Eigenschaften; und diese sind so selten wie die mittelmäßigen häufig. Wer ihn einmal aber hat, erhält ihn sich leicht. Er legt Verbindlichkeiten auf, aber er wirkt noch mehr. Geht er, wegen der Erhabenheit seiner Ursache und seiner Sphäre, bis zur Verehrung, so verleiht er uns eine Art Majestät. Jedoch ist nur der wirklich gegründete Ruf von unvergänglicher Dauer.

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Sein Wollen nur in Ziffernschrift

Die Leidenschaften sind die Pforten der Seele. Das praktischeste Wissen besteht in der Verstellungskunst. Wer mit offenen Karten spielt, läuft Gefahr zu verlieren. Die Zurückhaltung des Vorsichtigen kämpfe gegen das Aufpassen des Forschenden: gegen Luchse an Spürgeist, Tintenfische an Verstecktheit. (Bekanntlich läßt der Tintenfisch, wenn er verfolgt wird, braunen Farbstoff von sich, das Wasser zu verdunkeln.) Selbst unseren Geschmack soll keiner kennen, damit man ihm nicht begegne, entweder durch Widerspruch oder durch Schmeichelei.

99
Wirklichkeit und Schein

Die Dinge gelten nicht für das, was sie sind, sondern für das, was sie scheinen. Selten sind die, welche ins Innere schauen, und viele die, welche sich an den Schein halten. Recht zu haben, reicht nicht aus, wenn mit dem Schein der Arglist.

100
Ein vorurteilsloser Mann,

ein weiser Christ, ein philosophischer Weltmensch - sein, aber nicht scheinen, geschweige denn affektieren. Die Philosophie ist außer Ansehen gekommen, und doch war sie die höchste Beschäftigung der Weisen. Die Wissenschaft der Denker hat alle Achtung verloren. Seneca führte sie in Rom ein; eine Zeitlang fand sie Gunst bei Hofe; jetzt gilt sie für eine Ungebührlichkeit. Und doch war Aufdeckung des Trugs stets die Nahrung bedeutender Geister, die Freude der Rechtschaffenen.




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