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Freimaurerei, Freimaurerlogen, Freimaurer





F. B.

Der Ritter Kadosch und seine Tugend der "Reinheit" als Bindeglied zwischen den Ordnungen der Wirklichkeit

Jede Zeit und jedes Erleben hat jeweils eine eigene Wirklichkeit, die sich aber für eine andere Zeit über Bindeglieder erschließen läßt. Auch die im rituellen Geschehen zuerst sakrale Zeit läßt sich so über die geschichtliche in die Erfahrung der "Jetzt-Zeit" überführen. Im Erleben der verschiedenen Initiationen innerhalb der Freimaurerei begegnen dem zu Erhöhenden eine ganze Reihe von symbolischen Verknüpfungen, die er im ersten Moment nur entgegennehmen, nicht aber geschlossen einer Wirklichkeit zuordnen kann. Daher sollen am Beispiel des Ritter Kadosch, der uns in den weiterführenden Graden begegnet, einige Bindeglieder zwischen den verschieden Ordnungen der Wirklichkeit näher beleuchtet werden.


Spurensuche: "Ritter Kadosch" ein Tempelritter?

[RIC1983, Seite 32] verweist bezüglich der Herkunft des Grades vom "Ritter Kadosch" auf ein Ritual-Manuskript aus Lyon aus dem Jahre 1761. Der Kandidat wurde in diesem Ritual als Chevalier Kados angesprochen. Die zugehörige Ritualerläuterung verweist darauf, daß ein Teil der Brüder ihrem Eid entsprechend der Ritualhandlung untreu wurden. "Einige Brüder jedoch blieben ihrem Eid treu, trennten sich von den anderen (Kados = die Getrennten) und übten gute Werke. Sie nannten sich zu dieser Zeit Väter der Wüste und Heilige. Nach der Zerstörung des Tempels wurden sie zu einem christlichen Orden und schlossen sich 1118 den Kreuzrittern an. Ihre Abzeichen sind nun ein rotes Kreuz auf dem Herzen. Sie führen Dolch und Schwert, um das Evangelium zu verteidigen."

Das Wort "Kadosch" (auch: Kadosh, Kodesh (hebr.)) übersetzt [MIE1993 Seite 332] als heilig, geweiht, und verweist auf die hebr. Bibel, in der Kadosch die besondere Eigenschaft Gottes, d.h. seine unnahbare Erhabenheit, umschreibt, und führt weiter aus: "Die von Luther mit: "Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth" übersetzte Stelle Jes. 6.3 lautet im Original eigentlich, d.h. richtig übersetzt: 'Und wiederholt riefen sie einander zu: Kadosch ist Jahwe der Heerscharen.' - In der Freimaurerei kommt Kadosh in verschiedenen Zusammensetzungen bei der Bezeichnung für die höchsten rituellen Grade (im Gesensatz zu den bloßen Verwaltungsgraden) vor, z. B. Kadosh-Ritter (30. Grad des AASR) - Kadosch-Kadoschim."

[MIE1993] gibt dann unter dem Stichwort "Kadosch-Kadoshim (hebr.)" die Übersetzung als "das Allerheiligste" an und ergänzt: "In den alten jüdischen Tempeln sowie in den Tempeln der Freimaurerei [ist es] der heilige Raum hinter dem Altar, der von niemanden außer den besonders zugelassenen Eingeweihten betreten werden darf. - In 2. Könige wird Kadosch-Kadoshim auch für ein Nebengebäude des Tempels gebraucht, in dem gewisse verstümmelte Priester, die neben dem Hause des Herrn wohnen mußten, lebten."

Unter der Überschrift "Die Archaische Symbolik der Weltreligionen, Abteilung III 'Das Allerheiligste', seine Erniedrigung." weist [BLA1888 Band 2 - S. 482] auf eine andere Verknüpfung hin:
"Vielleicht auch mag, wenn man die wahre Bedeutung des Amtes und Titels der Kadesh Kadeshim, der 'Heiligen', oder der 'dem Tempel des Herrn Geweihten' sich vergegenwärtigt - das 'Allerheiligste' dieser 'Heiligen' ein sehr erbauliches Aussehen erhalten.
Iacchus wiederum ist Iao oder Jehovah; und Baal oder Adon war, wie Bacchus, ein phallischer Gott.
'Wer wird auf des Herrn Berg (die hohe Stätte) gehen?' fragte der heilige König David, 'und wer wird stehen an der Stätte seiner Kadushu?' (Psalter XXIV. 3) Kadesh kann in einem Sinne bedeuten: 'weihen', 'heiligen', 'für heilig erklären', und selbst 'initiieren' oder 'absondern'; aber es bedeutet auch den Dienst lasciver Riten - die Venusverehrung - und die richtige Auslegung des Wortes Kadesh ist ungeschminkt wiedergegeben im Deuteronomium (Fußnote 1) XXIII, 17; Hosea, IV, 14; und Genesis (Fußnote 2), XXXVIII, 15-22. Die 'heiligen' Kadeshim der Bibel waren den Pflichten ihres Amtes nach dasselbe, wie die Nautch-Mädchen der späteren indischen Pagoden. Die hebräischen Kadeshim, oder Galli, lebten 'an dem Hause des Herrn, darinnen die Weiber wirkten Häuser zum Hain', oder für die Büste der Venus Astarte (II. Könige XXIII, 7)."

Entsprechend überträgt [LAN1981 S.229] als Verb "absondern, heiligen, weihen, für heilig erklären", als Substantiv maskulinum "Astartediener, Buhler, Lustknabe" und femininum "Tempeldirne, Buhlerin".

Bezüglich der Tempelritter soll [PRU1888, Seite 3] erweiternd angeführt werden: "Wie die Jünger des Heiligen Nursia so verpflichteten sich die Hugos von Payns insbesondere zu Keuschheit, Gehormsam und Armuth. Dadurch erhielt die neue Genossenschaft im Gegensatz zu ihrem ausgesprochen militärischen Beruf einen klösterlichen Anstrich, der ihre Glieder den staunenden Zeitgenossen als Mönche erscheinen ließ in Bezug auf die Tugenden, die sie übten, als Ritter aber nach ihren Thaten. Allerdings galt diese zweite Seite von vornherein als die wesentlichere, zumal ihr Nutzen bald in weiteren Kreisen dankbar anerkannt wurde. Deshalb überließ König Balduin I. den "Rittern Christi" ein ihm gehöriges Haus neben dem sog. Tempel Salomonis, d. h. der ehemaligen el=Aksa=Moschee, in dessen unterem Stockwerk dieselben sich einrichteten. Da aber der Raum für ihre Bedürfnisse nicht ausreichte - denn sie brauchten auch Ställe, Vorratskammern und dergleichen -, so erwarben sie von den Patriarchen unter Zustimmung der Domcanoniker noch einen angrenzenden Platz und wurden damit vollends in dem sogenannten Tempelbezirk heimisch. Das bewirkte denn die Aenderung des Namens in den der 'armen Ritterschaft Christi vom salomonischen Tempel' oder 'vom Tempel' schlechthin."

Aus dem bisher Berichteten kann also die Verbindung von Ritter Kadosch und Tempelritter direkt von der Namensgebung abgeleit werden. Außerhalb der rituellen Handlung läßt sich aber noch eine weitere Brücke zwischen dem Ritter Kadosh und den Templern finden: [PRU1888, Seite 27] schildert, "daß Papst Eugen III. (1145-53) ihnen zu dem weißen Gewande ein rothes Kreuz verlieh. Dieses war das Abzeichen der Streiter der Kirche: als solches begegnet es uns zuerst Mitte des 12. Jahrhunderts in der Lombardei in den Kämpfen zwischen der Hildebrandischen Reformpartei und den Verteidigern der alten Ordnung; unter ihm focht Erlenbald Cotta, der 'Ritter der Kirche'. Allgemeinere Bedeutung hatte es dann im ersten Kreuzzug bekommen. In den Kreisen der Templer meinte man, es solle besagen, wie Christus sein Blut für die Menschheit vergossen, so solle das Kreuz die Templer ermahnen, alle Zeit bereit zu sein, ihr Blut gegen Feinde Christi hinzugeben. Gut stand dieses Abzeichen der Ritterschaft, die das mit dem Kreuzzuge begonnene Werk sichern und vollenden sollte."

[FOR1992, viertes Buch, Seite 403] führt bezüglich dieser Verknüpfung mit den Tempelrittern Darstellungen auf einem Patent für den Ritter Kadosch des Grand Orient de France an: "Eine weitere Spur der templerischen Legende findet sich auch heute noch in den offiziellen Urkunden des Groß-Orients und macht diesen damit äußerst suspekt. Der Bildschmuck des Diploms, das von seinem Großkolleg für die Rituale dem Inhaber des 30. Grades oder Ritter vom schwarzen und weißen Adler und Großer Auserwählter Ritter Kadosch ausgehändigt wird, hätte Cadet-Gassicourt (Fußnote 3) mit Befriedigung erfüllt, denn er rückt den Grad des Tempelritters in die Nähe der Rachegrade. Der Text des Diploms wird umrahmt von zwei mit Panzerhemd, Waffenrock und weißem Wollmantel bekleideten Templern, die sich auf ihre Schilde stützen, von denen der eine das Kreuz Lothringens zeigt, der andere einen Totenkopf von einem Dolch gekreuzt, was auf die Aufnahmezeremonie in den Grad des Ritters Kadosch anspielt."


Das Symbol der mystischen Leiter

Nach [LEN1932 S. 911] ist die Leiter "als eines der ältesten Symbole der alten Mysterien bekannt. Ihre Stufen versinnbildlichen die Höherentwicklung der Seele zum wahren Licht. Eine Leiter gab es auch im Mithra-Kult." [LUR1988 S. 419] ergänzt diesbezüglich, daß Leiter und Treppe ganz allgemein Symbole des Aufstiegs sind, wobei in den Mysterien (z.B. des Mythras) die aufeinanderfolgenden Sprossen eine spirituelle Entwicklung andeuten. Unter Stichwort 'Freimaurerische Symbole' erweitert [LUR1988 S. 211] dann: "In Anlehnung an Jakobs Traum von der Himmelsleiter ist die Leiter ins englische Ritual eingegangen; ihre drei Hauptsprossen: Glaube, Liebe und Hoffnung..." [LEN1932 S. 911] folgend ist in der ägyptischen Mythologie Horus der Gott der Leiter: "Die Vorstellung vom himmlischen Land, das nur mit Hilfe der Sonnenleiter erreicht werden könne, liegt dem Symbol zugrunde. Nach einer ägyptischen Legende wurde Horus nach seiner Ermordung von Osiris mittels einer Leiter wieder ins Leben zurückgeführt." Auch führt [LEN1932 S. 911] aus, daß in der Form der Jakobsleiter die Leiter zum Symbolschatz der englischen Maurerei gehört. [FED1987 S.30] berichtet zum Symbolursprung detailliert: "Von diesem Pflaster (Fußnote 4) führt dann meist eine Leiter zu dem Tempelbezirk empor. Diese Leiter ist auf die Jakobsleiter in Genesis 28,12 zurückzuführen, ist aber in ihrer Symbolik weit älter. Sie hatte sieben Stufen, die jede ihre Bedeutung hatten. Vielfach wurden aber auch nur drei Stufen aufgezeichnet, die mit Glaube, Hoffnung, Liebe (Faith, Hope, Charity) gedeutet wurden. Es ist aber nicht sicher auszumachen, welche Sprossenzahl die ursprüngliche ist. Später hatte die Leiter auch 11 und 21 Sprossen. Vielfach führt sie von der aufgeschlagenen Bibel, auf welcher Winkelmaß und Zirkel lagen, hoch in den Osten, wo ein lichter Himmel oder die Sonne oder andere Lichtsymbole zu erkennen sind. Unter der Bibel sehen wir meist den merkwürdigen Kreis mit dem Punkt in der Mitte und den senkrechten Linien an beiden Seiten. ... Diese Leiter wurde zu einer Treppe, die gerade oder in Form einer Wendeltreppe nach oben führte, und auf der Plattform vor dem Tempel endete, der auf den Tafeln der 'Antiens' eine wesentliche Rolle spielte."

Im Grad des Ritter Kadosch steht die sogenannte "mystische Leiter" als zusammenfassendes Symbol im Mittelpunkt eines Teils der Ritualhandlung. Sie ist eine Doppelleiter und zeigt zweimal sieben Sprossen [RIC1983 S. 46, RIT30GR S. 15]. Die sieben Sprossen zur Linken sind dem Verstand zugeordnet: "Mathematik, Astronomie, Pysik, Chemie, Biologie, Psychologie, Soziologie". Die sieben Sprossen zur Rechten gehören zum Bereich des Gefühls: "Gerechtigkeit, Reinheit, Sanftmut, Wahrheitsliebe, Schaffensfreude, Pflichtbewußtsein, Umsicht". Der linke Holm trägt die Inschrift "Liebe zur Wahrheit" und der rechte "Liebe zu den Menschen".

Nach [RIC1983 S. 47 und RIT30GR S. 16] beziehen Wissenschaften und Tugenden sich aufeinander und müssen sich aneinander messen: "Sie dürfen nicht getrennt werden, soll nicht der übergreifende Sinn verloren gehen, der durch die Verbindung beider Seiten mit Hilfe der Liebe gegeben ist. Hieraus erwächst die Pflicht des Menschen, seine Gedanken und Taten immer wieder zu prüfen. Maßstab dazu ist sein Gewissen. Nicht von anderen soll er sich sagen lassen, was gut und richtig ist, sondern er selbst soll es ergründen." Zusammenfassend erläutert [RIC1983 S.47]: "Es ist die Einheit von Gefühl und Verstand, die erst den ganzen Menschen ausmacht."

Die Beschriftung der Leiter hat nach [RIC1983 S.46] im Laufe der Zeit mehrfach eine Änderung erfahren: "In den Ritualen des 18. Jahrhunderts lautete die Erklärung anders... Die beiden Holme galten als die Liebe Gottes und die Nächstenliebe. Die sieben Sprossen waren die Tugenden Barmherzigkeit - Aufrichtigkeit, die alle Handlungen regieren soll - Milde des Charakters - Wahrheit, die alle Worte bestimmt - Fortschritte in der Arbeit des Himmels (pratique des cieux) - Geduld im Unglück - Vorsicht, die das Geheimnis bewahrt." Die fünfte Tugend weist nach [RIC1983] auf hermetische Inhalte hin, wobei er sich für eine alchimistische Variante auf Vuillaume 1821 bezieht: "Gerechtigkeit, Almosen - weißer Stier Süß - Treue, Festigkeit - Große Arbeit - Last - Wiedervergeltung, Verstand, Klugheit." [RIC1983] empfindet diese Aufzählungen nicht als einen Katalog herkömmlicher Tugenden, sondern eher als die Beschreibung eines Weges zur inneren Läuterung und meint, daß dieser Gedanke dann bei späteren Redaktionen verloren gegangen ist. Bezüglich des zweiten Sprossenansatzes weiß [RIC1983 S. 47] zu berichten, daß er früher die sieben freien Künste der Antike symbolisieren sollte und fährt dann fort: "Durch die Einsetzung moderner Wissenschaften ist der Versuch gemacht worden, zeitgemäß zu sein. Da der Katalog aber nicht ständig modernisiert werden kann, wäre die alte Aufzählung von Grammatik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie symbolisch vermutlich tragfähiger". Entsprechend ist auch bei [LEN1932 S. 911] nachzulesen: "Die eine Stufenreihe lehrt: Gerechtigkeit; Güte; Demut; Treue; rastlose Arbeit; Pflicht; Edelmut in Verbindung mit Einsicht und Klugheit, die andere zeigt die sieben alten Wissenschaften: Grammatik, Rhetorik, Logik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie."


Die "Reinheit" und ihre Definition

Die Tugend der 'Reinheit' wurde bei der mystischen Leiter erst spät in den Kanon der geistigen Tugenden aufgenommen. Eine nähere Untersuchung zeigt, daß es sich hier durchaus um einen wertvollen Schlüsselbegriff handelt, der diesen Platz zurecht verdient.

[BRO1975] versteht das Stichwort 'Reinheit' im moralischen Sinne "Unbeflecktheit, übertragen: Unberührtheit, Keuschheit, Aufrichtigkeit des sittlichen Tuns. In vielen Religionen ist Reinheit. eine Voraussetzung für die Teilnahme am Gottesdienst. Strengen Reinheitsvorschriften unterliegt vor allem der Priester."

Die symbolische Verknüpfung berücksichtigend führt dazu [LUR1988] aus: "Reinheit bedeutet in der religiösen Sprache das Freisein von kultisch Befleckendem. Bestimmte Speisen, das Geschlechtliche, Krankheit und Tod - in der Machtsphäre besonderer Dämonen setzen den Menschen der Unreinheit aus. In den alttestamentlichen Reinheitsgeboten wollte man schon den Grundgedanken erblicken, daß alle Unreinheit einem Entzug von Lebenskraft gleichkomme, wie dies aus einer bestimmten Vorstellung heraus auch für die Menstruation und Pollution zutrifft. Nur der Reine darf in der kultischen Handlung und im Opfer Gott gegenübertreten. Eine gewisse Symbolik zeigt sich bereits in der hebräischen Sprache: thabor (rein) bedeutet ursprünglich "zum Licht hervorbrechend, lichtglänzend", thame (unrein) ist zunächst "schlammig, schmutzig". Den verbreiteten rituellen Reinigungen durch das Wasser liegt das Bild von der Sünde als Schmutz zugrunde. Bereits Hesiod bezog die Idee der Reinheit auf die seelische Reinheit, wenn er fordert, daß man rein an Leib und Seele den Göttern das Opfer bringen soll. Um Schuld und Sühne, Befleckung der kultischen Reinheit und ihre Wiederherstellung kreist der Mythos von Ödipus. Im Christentum wird das Schwergewicht vollends auf die moralische und geistige Dimension der Reinheit verlegt; im Neuen Testament werden die alten Reinheitsvorschriften für nutzlos erklärt, wenn sie nicht Ausdruck der Reinheit des Herzens sind."

Den sprachlichen Blickwinkel berücksichtigend führt [HOF1955] weiter: "'rein' - mittelhochdeutsch reine, althochdeutsch hreini, germanische Sprachwurzel hri (lateinisch cribum "Sieb", griechisch krisis "Scheidung", "Entscheid", "Auswahl"), frei vom Fremdartigen, in sich einheitlich - z. b. "reine Menschlichkeit", "reines Gold". Häufiger gebraucht wird das Wort erst seit der deutschen Mystik, und zwar in landschaftlichem Wechsel mit lauter, mittelhochdeutsch luter. Die Luterkeit ist entsprechend Matthäus 5,8 (Fußnote 5) die Bedingung der unio mystica."

Nach dieser sprachlichen Betrachtung vertieft [HOF1955] die philosophische Seite: "Der Begriff rein taucht in der antiken Philosphie mit der Frage nach dem Wesen des Geistes auf. Bei Anaxagoras (Aristoteles, De anima 405a 16) bezeichnet er das Einfache, Lautere, Ungemischte des Geistigen im Gegensatz zum Gemisch der sinnlichen Welt. Die neuere Philosophie verwendet den Begriff meist in erkenntnistheoretischem Zusammenhang. Chr. Wolff (Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes usw. 1712, §282) sagt: 'Weil die Deutlichkeit der Erkenntnis für den Verstand, die Undeutlichkeit aber für die Sinne und Einbildungskraft gehört, so ist der Verstand abgesondert von den Sinnen und der Einbildungskraft, wenn wir völlig deutliche Erkenntnis haben, hingegen mit den Sinnen und der Einbildungskraft noch vereinbart, wo noch Undeutlichkeit und Dunkelheit bei unserer Erkenntnis anzutreffen. Im ersten Fall heißt der Verstand rein, im anderen aber unrein.'"


Die Vernunft und die "Reinheit"

Doch was ist nun "reine Vernunft"? [HOF1955] verweist hier vor allem auf Kant, welcher reine Vernunft im Gegensatz zur Erfahrung das Vermögen der Erkenntnis aus Prinzipien a priori (Fußnote 6) nennt: "Reine Anschauung bedeutet bei ihm die von Empfindung leere, formale Anschauung, die die Grundlage der Geometrie ist." Kant führt aus: "Aus diesem allen ergibt sich nun die Idee einer besondern Wissenschaft, die zur Kritik der reinen Vernunft dienen könne. Es heißt aber jede Erkenntnis rein, die mit nichts Fremdartigen vermischt ist. Besonders aber wird eine Erkenntnis schlechthin rein genannt, in die sich überhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmischt, welche mithin völlig a priori möglich ist." [KAN1781 Seite 55 Einleitung A11 (nach Ausgabe A: 1. Auflage von 1781)]. [HOF1955] führt dann Kritik an: "Das reine Ich bedeutet bei Kant die transzendentale synthetische Einheit der Apperzeption (Fußnote 7). Als Naturwissenschaftler richtet sich vor allem Helmholtz gegen die Apriorität (Fußnote 8) der Anschauungen von Raum und Zeit. Auch die moderne Physik übt Kritik am Standpunkt Kants: sie 'hat die Grenzen, die der Idee des a priori in den exakten Naturwissenschaften gesteckt sind, genauer bezeichnet, als dies zu Kants Zeiten möglich war' (Heisenberg, Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, 1936, S. 19). Reines Denken ist bei Fichte, Hegel u. a. das Denken, das nur sich selbst zum Gegenstand hat."

Erweiternd kritisiert [HEI1943 S.18/19] die Philosophie Kants: "Ähnlich wie im Altertum die Geometrie das Vorbild für folgerichtiges philosophisches Denken lieferte, so entstanden unter dem Einfluß der Naturwissenschaft die philosophischen Systeme, bei denen - ähnlich wie in ihr - eine oder mehrere als unbezweifelbar erkannte Wahrheiten an die Spitze gestellt und alles andere aus diesen deduziert werden sollte. Die Systeme von Cartesius und Spinoza sind Beispiele dafür. Auch die Philosophie Kants, die eine Kritik der voreiligen Dogmatisierungen naturwissenschaftlicher Begriffe beabsichtigte, konnte die Erstarrung des naturwissenschaftlichen Weltbildes nicht hindern; sie hat diese sogar in mancher Beziehung vielleicht gefördert. Denn nachdem die Grundzüge der klassischen Physik als die Vorbedingung a priori physikalischer Forschung erkannt waren, entstand durch eine naheliegende, aber unrichtige Extrapolation der Glaube, sie seien absolut, d. h. für immer gültig und könnten durch neue Erfahrungen nie verändert werden." [HEI1943 S.19] leitet daraus die Entstehung eines neuen Weltbildes ab: "Damit bildete sich der feste Rahmen der klassischen Physik. Es entstand die Vorstellung einer objektiven, in Zeit und Raum sich abspielenden körperlichen Welt, die einer Maschine vergleichbar dem ersten Anstoß nach unabänderlichen Gesetzen folgt. Die Tatsache, daß diese Maschine ebenso wie die ganze Naturwissenschaft selbst wieder ein Produkt des menschlichen Geistes war, erschien als unwesentlich und für das Verständnis der Natur belanglos."

Wie bereits im Zusammenhang mit dem Symbol der "mystischen Leiter" angeführt "ist [es] die Einheit von Gefühl und Verstand, die erst den ganzen Menschen ausmacht" [RIC1983 S.47]. [HEI1943 S.19] erkennt nun in der Übertragung des naturwissenschaftlichen Denkens auf andere Gebiete die Ursache für den Bruch zwischen Gefühl und Verstand: "Erst diese Ausdehnung naturwissenschaftlicher Denkformen weit über ihren legitimen Anwendungsbereich hinaus führte wohl zu der oft beklagten Spaltung des geistigen Lebens in die wissenschaftliche Region einerseits und die im engeren Sinn lebendigen Bereiche der Religion und der Kunst andererseits. Die exakte Wissenschaft griff auf andere Bezirke des geistigen Lebens über und bedrohte - überzeugt von der allgemeinen Gültigkeit und Anwendbarkeit der naturwissenschaftlichen Grundsätze - ihre selbständige Bedeutung: da aber ihre Kraft einer inhaltlichen Erfüllung dieser anderen Bereiche nicht genügte, bildeten sich aus der Gegenwehr schwer überschreitbare Grenzen zwischen den nunmehr feindlichen Gebieten. Das so entstandene naturwissenschaftliche Weltbild des 19. Jahrhunderts gilt als rationalistisch, weil sein Zentrum, die klassische Physik, aus einer geringen Anzahl rational analysierbarer Axiome aufgebaut werden kann und weil es daher von dem Glauben an die Möglichkeit der rationalen Analyse aller Realität in der Welt ausging." Den Mangel in einer solchen Betrachtungsweise kritisiert auch [HEI1943 S.19/20]: "Es muß aber betont werden, daß die Hoffnung, aus der Kenntnis eines kleinen Teils der Welt das Verständnis ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit zu gewinnen, niemals rational begründet werden kann." [RIT30GR S. 18] kommt zu einer ähnlichen Erkenntnis: "Gelänge es der Wissenschaft, selbst alle Erscheinungen auf eine einzige Grundformel zurückzuführen, welche Wahrheit könnte man aus einer solchen Grundformel ableiten? Das Absolute etwa? Das wagt die Wissenschaft nicht mehr zu behaupten; sie erkennt, daß diese Frage offen bleibt."

Vernunft und Reinheit bilden miteinander viele Facetten. [SCH1861 Band I, Seite 441] schlägt eine freimaurerische Brücke zwischen Vernunft und Reinheit: "Es muss wohl kaum berührt werden, dass das maurerische Gehen und Wandern im rechten Winkel zunächst blos eine symbolische Bedeutung habe und die Geradheit und Reinheit, Wahrheit und Gerechtigkeit der menschlichen Gedanken, Worte und Werke bezeichne. Auch das Winkelmass, wodurch des Menschen Gedanken, Worte und Werke gerade und rein, wahr und gerecht gemacht, - womit dieselben gemessen werden sollen, ist wieder nur ein Symbol, so dass man billig verlangen darf, das eigentlich Gemeinte, jeder symbolischen Hülle entkleidet, zu sehen und zu hören, - zu wissen, welches denn das im menschlichen Leben und von den Menschen, von dem Maurergesellen wirklich anzuwendende Winkelmass ... sei. Dieses Winkelmass ist nun die menschliche Vernunft."


Von der "Reinheit" des Lichtes zur Flamme der Ritterlichkeit

Nach [LUR1988] ist das Licht "in seiner Hindeutung auf das Göttliche, das Immaterielle, das Gute und das Leben einer der religiösen Ursymbole der Menschheit. Das Licht entspricht in all seinen Manifestationen - Sonne, Mond, Blitz, Feuer - dem Wesen der Gottheit. Die wichtigsten ägyptischen Götter lassen einen Bezug zu Sonne und Licht erkennen. Serapis und Isis wurden als phos bezeichnet. Der parsische Ahuramazda ist Schöpfer aller guten Dinge, besonders des Lichtes. Die Namen der indogermanischen Himmelsgötter Dyauspitar, Zeus, Jupiter sind von dei = 'leuchten' abzuleiten... Die Lichtnatur ist Eigenschaft aller dem Himmel zugehörigen oder zugewandten Wesen: Engel, Heilbringer. Die himmliche Entsprechung des historischen Buddha ist Amitabha = 'unendliches Licht', das auch in dieser Welt der Lebewesen reinigend und beglückend wirkt."

In der Freimaurerei steht die Symbolik des Lichtes im Mittelpunkt der rituellen Handlung. Als Höhepunkt seiner Aufnahme erlebt der Bruder Freimaurer die"Lichtgebung": "Was das Licht für die Augen, ist die Wahrheit für den Geist. ... " [RIT01GR]. Angesprochen wird der spirituelle Charakter des Lichtes.

"Der spirituelle Charakter des Lichtes zeigt sich darin, daß es Grundlage des Sehens, des Erkennens ist" erläutert [LUR1988] und ergänzt dann: "Die Weisheit 'ist ein Abglanz des ewigen Lichtes' (Weisheiten 7,26). Parmenides verglich den Weg zur Erkenntnis mit einem Überwechseln von der Finsternis zum Licht. Die Lichtmetaphysik des Neuplatonismus wird von Augustinus weitergeführt: 'Das Licht Gottes ist das wahre Licht, das den ganzen Menschen erleuchtet' (Confessiones). Das Mittelalter unterscheidet zwischen der menschlichen Vernunft als lumen naturalis und der durch göttliche Offenbarung bewirkten Einsicht (lumen supranaturalis). Jeder Mysterienbund glaubt, daß die Eingeweihten 'das Licht sehen', die Außenstehenden aber in der Finsternis wandeln."

[RIT18GR S.5] leitet rituell im 17. Grad zu einer erweiterten Betrachtungsweise über: "Die "Ritter vom Osten und Westen" bilden ein geistiges Rittertum, das seinen Auftrag darin sieht, einmal als Ritter vom Osten die kulturellen Werte rein zu erhalten und zum anderen als Ritter vom Westen die Voraussetzungen für Kommendes, Besseres zu schaffen und gemeinsam bereit zu sein, das Gute zu schützen und gegen Angriffe zu verteidigen. Maß und Zucht werden zur Richtschnur des Handelns. Während die Loge Brüderlichkeit lehrte, verlangt darum die Arbeit im Kapitel die Zuwendung zum Nächsten. Dem Symbol des Lichts der vorangegangenen Grade steht hier das Symbol der Flamme gegenüber." Verstärkend wiederholt wird diese Aussage in [RIT18GR S.34]: "Die Loge lehrte Euch Brüderlichkeit, das Kapitel weist Euch zur Nächstenliebe. Dem Lichtsymbol der Johannismaurerei steht hier das Symbol der Flamme gegenüber. So schaffen die Gradsymbole, Zeichen und Worte den Zusammenhang der Aussage dieses Grades: Leuchtende Flammen - selbstlose Liebe - Leben, Tod und Ewigkeit - aufopferungsvolle Menschlichkeit in Demut." [RIT18GR S. 36] betont dann den ritterlichen Denkansatz: "Ritter-Ideal und Rittertum sind zunächst beherrschender Teil des abendländischen Christentums. Sie spiegeln aber auch die Begegnung mit morgenländischen, arabischen Rittern wieder, von denen die abendländischen starke Impulse übernahmen. In diesem Grad nun ist das Rittertum zu einer allgemein menschlichen - menschlich ritterlichen - Aufgabe gemacht."


Von der Tugend der "Reinheit" Goethes hin zur Welt des Pythagoras

[FIS1929 S. 499] hält "rein" für "ein Lieblingswort Goethes". In Goethes Wortschatz steht "Reinheit" für unverminderte Frische, Klarheit, auf klarer Anschauung beruhende Genauigkeit, reine, ungetrübte Stimmung, Lauterkeit, sittliche Unantastbarkeit und Lauterkeit [FIS1929 S. 501]. [BEC1942] hat in seinem Aufsatz "Der 'Geist der Reinheit' und die 'Idee des Reinen'" die zentrale Bedeutung der "Reinheit" für Goethe herausgearbeitet. Der junge Goethe verbindet die "Reinheit" mit der Liebe, als er im Herbst 1775 an die Gräfin Auguste Stolberg in einem Brief (Der junge Goethe, Bd. 5, S. 302) schreibt: "Und doch ..., wenn ich wieder so fühle, daß ... mein Blick heitrer über Welt, mein Umgang mit den Menschen sichrer, fester, weiter wird, und doch mein Innerstes immer ewig allein der heiligen Liebe gewidmet bleibt, die nach und nach das Fremde durch den Geist der Reinheit, der sie selbst ist, ausstößt und endlich lauter werden wird wie gesponnen Gold ..."

Nach [BEC1942 S. 160] ist für Goethe die "Reinheit" Urwort und Leitstern über dem sittlichen und geistigen Dasein und bestimmt "Tun und Denken des Mannes und Greises als ethisches Ideal" und präzisiert "Es ist der 'Geist der Reinheit'". [BEC1942 S. 161] leitet zum Begriff der "reinen Selbstigkeit" hin: "'Reine Selbstigkeit' - ein bedeutsamer Begriff, den Goethe noch im höchsten Alter als Norm der Persönlichkeit preist und scharf dem bloßen Egoismus entgegenstellt. Der Ausdruck bildet entwicklungsgeschichtlich eine der Brücken von dem Genie-Ideal des Sturm und Drangs zu der Humanitätsidee der Klassik: dort Kernbegriff eines genialischen, egozentrischen Subjektivismus, bezeichnet er hier die schlackenlose, organische Ausprägung der Individualität und das sichere Ruhen der Persönlichkeit in sich selbst, - den ausgeglichenen Zustand des Menschen, der seiner 'geprägten Form', die lebend sich entwickelt, gewiß ist, das Fremde von dieser Form ausscheidet oder ihr anverwandelt und in allem Getriebe des Lebens unverlierbar ein Insichselbstsein bewahrt." [BEC1942 S. 162] weist bezüglich der "Reinheit" darauf hin, daß bei Goethe "das Wort auch jene engen, für immer gültigen Verbindungen mit Nachbarbegriffen wie Stille und Maß ein[geht] und ... es sich mit dem Sinne von Gelassenheit, 'Selbstigkeit', 'Abgezogenheit'(verwandt mit dem mittelalterlich-mystischen Begriff 'abgeschieden', 'Insichsein', Harmonie, Kosmos in dem griechischen Verstande gesetzhafter Ordnung und Ausgeglichenheit [erfüllt]". [BEC1942 S. 164] führt dann nochmals anhand der Tagebücher die besondere Haltung Goethes an, berücksichtigt dabei aber nicht seine freimaurerische Prägung: "'Reine Selbstigkeit', das heißt Erkenntnis und Erfüllung des eigenen Lebensgesetzes in der fruchtbaren, steigernden Spannung mit den Gegenkräften des eigenen Wesens und der Außenwelt, dies ist das Ziel, dem der Dichter durch die fast tägliche Rechenschaft vor sich selbst näher zu kommen sucht. 'Ich muß noch herauskriegen, in welcher Zeit und Ordnung ich mich um mich selbst bewege', so heißt es einmal, mit einem bedeutsamen Bilde, das der menschlichen Individualität die Gesetzhaftigkeit der Bewegung des Gestirns zuspricht. (Tagebuch 26.3.1780) 'Erkenne dich selbst' und: 'Werde, der du bist', unter diesen Geboten der 'reinen Selbstigkeit' scheinen die Tagebücher geschrieben: es sind die höchsten apollonischen Gebote. Als Leitfaden zieht sich durch alles hindurch die Idee der Reinheit. In ihrer alle äußeren, seelische, geistigen Funktionen und Beziehungen des Lebens umgreifenden Bedeutung, in ihrer Verwandtschaft zu edlem Maß und lauterer Harmonie steht sie derjenigen Reinheit nahe, die ein Grundgesetz des Daseins in der von Apollon (Fußnote 9) beherrschten Frühzeit von Hellas und die vollkommen in dem delphischen Gotte selbst verkörpert war, - dem Pythier, in dem der junge Goethe selbst schon die adlige, herrscherliche Reinheit verwirklicht empfand und feierte in 'Wanderers Sturmlied'." Am 7. August 1779 trägt Goethe in sein Tagebuch ein: "Möge die Idee des Reinen die sich bis auf den Bissen erstreckt den ich in Mund nehme, immer lichter in mir werden." Die 'Reinheit' der Nahrung ist nach Einschätzung von [BEC1942 S. 167] hier als "Symbol für die allbeherrschende Lauterkeit des Wesens und der Lebensführung gedacht ... Der Wunsch erinnert unmittelbar an die bekannten, wenn auch in verschiedener Fassung überlieferten Speisegebote des Pythagoreerkreises." [BEC1942] fixiert daraus schließend: "Nun bildet aber nach allem die kultisch-hygienische Reinheit und die geistig-sittliche Lauterkeit den Grundstein der pythagoreischen Ethik im frühklassischen, apollinischen Griechentum. Damit drängt sich mit Notwendigkeit der Schluß auf, daß das auffällige Erstarken des Ideals der Reinheit ... mit der von Pythagoras verkündeten Lebensnorm in ursächlichem Zusammenhang stehe."

Pythagoras aus Samos, dessen Blütezeit in die 60. Olympiade (540-537 v. Chr.) fällt, wird von [CAP1968 S. 98] als ein religiös-ethischer Reformator beschrieben, "der seinen Anhängern ein ganz bestimmtes Lebensideal - mit besonderen Grundsätzen, aber auch mit Weihen, Askese, auch Meidung von Fleischnahrung (denn das besagt die vielgenannte 'Enthaltung vom beseelten Geschöpf'), überhaupt äußerer wie innerer 'Heiligung' des Lebens - aufstellt und in seiner eigenen Person verwirklicht hat, ist nur die eine bedeutsame Seite im Wesen des merkwürdigen Mannes; die andere ist offenbar auf rein wissenschaftliche Forschung und Spekulation, insbesondere Geometrie, Arithmetik und Astronomie, gerichtet." Der Gedanke einer Verbindung zwischen der Welt von Pythagoras und dem Symbol der "mystischen Leiter" des Kadosch-Ritters ist somit durchaus realistisch.


Die Ordnungen der Wirklichkeit

"Die Ordnung, die durch die Entwicklung der Naturwissenschaft nahegelegt wird, schließt sich an uralte Denkformen an, die zu verschiedenen Zeiten immer wieder neue Formulierungen gefunden haben." stellt [HEI1942 S. 232] unter der Überschrift "Die Goethe'schen Bereiche der Wirklichkeit" fest und stellt einen Abschnitt aus den Nachträgen der Farbenlehre von Goethe an den Anfang seiner Betrachtung:
"Alle Wirkungen, von welcher Art sie seien, die wir in der Erfahrung bemerken, hängen auf die stetigste Weise zusammen, gehen ineinander über; sie undulieren von der ersten bis zur letzten. Daß man sie voneinander trennt, sie einander entgegensetzt, sie untereinander vermengt, ist unvermeidlich; doch mußte daher in der Wissenschaft ein grenzenloser Widerstreit entstehen. Starre scheidende Pedanterie und verflößender Mystizismus bringen beide gleiches Unheil. Aber jene Tätigkeiten, von der gemeinsten bis zur höchsten, vom Ziegelstein, der dem Dache entstürzt, bis zum leuchtenden Geistesblick, der dir aufgeht oder den du mitteilst, reihen sie sich aneinander. Wir versuchen es auszusprechen:

Zufällig, Mechanisch, Physisch, Chemisch, Organisch, Psychisch, Ethisch, Religiös, Genial."

[HEI1942] versucht diese Reihung zuzuordnen: "Damit ist eine Ordnung der Wirklichkeit bezeichnet, die als Vorbild für die von der modernen Wissenschaft gesuchte gelten kann. Vor der Durchführung einer solchen Ordnung muß aber genau auseinandergesetzt werden, was eine solche Einteilung bedeuten und was sie nicht bedeuten kann.Zunächst handelt es sich hier offenbar nicht um eine Einteilung der Dinge (im allgemeinsten Sinne)." [HEI1942 S. 233] erkennt eine viel weiter reichende Zuordnung: "Verfolgt man die Entwicklung des Materiebegriffs in der modernen Physik, so erscheint schließlich die Materie ebenso wie die Kraft als eine Art Struktur des Raumes. Diese Struktur ist den Naturgesetzen unterworfen, und es liegt an gewissen einfachen "Invarianz"Eigenschaften dieser Gesetze, daß in vielen Fällen das Wort "Materie" zur Beschreibung der Vorgänge verwendet werden kann. Aber das Bleibende im Wandel der Erscheinungen ist nicht der Stoff, sondern das Gesetz.Erst wenn dieser Schritt vollzogen ist, wenn erkannt ist, daß es keinen "Stoff" gibt, der bestimmten Gesetzen folgt, sondern daß es eben nur gesetzmäßige Zusammenhänge gibt, die wir erfahren können und zu deren Beschreibung wir auch gelegentlich Wörter wie Stoff oder Materie verwenden - erst dann kann der Satz richtig verstanden werden, daß es sich bei der gesuchten Einteilung um eine Ordnung der Wirklichkeit nach gesetzmäßigen Zusammenhängen handeln soll. Unter einem "Bereich der Wirklichkeit" - soweit das Wort Bereich in diesem speziellen Sinne der Einteilung gebraucht wird - verstehen wir also eine Gesamtheit von gesetzmäßigen Zusammenhängen. Eine solche Gesamtheit muß einerseits eine feste Einheit bilden, sonst könnte man nicht mit Recht von einem "Bereich" sprechen, andererseits muß sie scharf gegen andere Gesamtheiten abgegrenzt werden können, damit eben eine Einteilung der Wirklichkeit möglich wird. Es entsteht damit die Frage, wie eine Gesamtheit von Gesetzen in sich geschlossen und scharf gegen andersartige Gesetze abgegrenzt werden kann."

Diese Aussage läßt sich auf das Symbol der "mystischen Leiter" übertragen. Es ist in sich geschlossen und hat rituell vermittelte Gesetzmäßigkeit. Dieses wird um so deutlicher, wenn die nachfolgende Aussage von [HEI1942 S.233/234] mit in die Überlegung einbezogen wird: "Hier ist in erster Linie daran zu erinnern, daß die Sprache, in der wir über die Wirklichkeit sprechen, im Zusammenwirken von Handeln und Erfahren entsteht. In dem Maße, in dem die Begriffe im Lauf der Zeit einen immer schärferen Sinn erhalten, verknüpfen sie sich auch mit ganz bestimmten Voraussetzungen über unser aktives Verhalten. Eben dadurch wird von selbst ein gewisser Abschluß eines Begriffsystems und des mit ihm gemeinten Wirklichkeitsbereiches erreicht, da sich dieses System auf ein ganz bestimmtes aktives Verhalten zur Wirklichkeit bezieht und daher nicht mehr angewendet werden kann dort, wo wir uns zu einem anderen Verhalten entschließen. Andererseits wird in dieser Weise der Anwendungsbereich des betreffenden Begriffsystems überhaupt problematisch, da ja nur durch die Erfahrung entschieden werden kann, in wieweit das vorausgesetzte aktive Verhalten überhaupt möglich ist."

Das im Symbol der "mystischen Leiter" wiedergegebene System und der damit verbundene Wirklichkeitsbereich ist im Zusammenwirken von Handeln und Erfahren entstanden; das vorausgesetzte aktive Verhalten ist demnach nicht nur Theorie, sondern kann unproblematisch direkt umgesetzt werden. Werden die dem Verstand zugeordneten sieben Sprossen zur Linken "Mathematik, Astronomie, Pysik, Chemie, Biologie, Psychologie, Soziologie" der Wirklichkeit um uns und die dem Gefühl zugeordeneten sieben Sprossen zur Rechten "Gerechtigkeit, Reinheit, Sanftmut, Wahrheitsliebe, Schaffensfreude, Pflichtbewußtsein, Umsicht" der Wirklichkeit in uns zugewiesen [RIC1983 S. 46, RIT30GR S. 15], so wird die Auffassung von [HEI1942 S. 235] in die Ordnung der Wirklichkeit des "Ritter Kadosch" übertragbar: "Die Ordnung der Wirklichkeit, die wir suchen, soll vom Objektiven zum Subjektiven aufsteigen. Sie soll also anfangen mit einem Teil der Wirklichkeit, den wir ganz außerhalb von uns stellen können, in dem wir ganz absehen können von den Methoden, mit Hilfe derer wir von seinem Inhalt Kenntnis erlangen. An der Spitze der Ordnung aber stehen, wie in dem Goethe'schen Entwurf, die schöpferischen Kräfte, mit deren Hilfe wir selbst die Welt verwandeln und gestalten. Dabei darf das Wort "subjektiv" nicht in dem Sinne mißverstanden werden, als handele es sich bei den höheren Bereichen etwa zum Teil um Sachverhalte, die nur für unser Gefühl oder nur für bestimmte Menschen existierten, oder um irgendeine Art von eingebildeter Wirklichkeit. Mit dem Wort "subjektiv" soll nur angedeutet werden, daß es bei einer vollständigen Beschreibung der Zusammenhänge eines Bereichs vielleicht nicht möglich ist, davon abzusehen, daß wir selbst in die Zusammenhänge verwoben sind."


Die höfische Ordnung der Wirklichkeit im Symbol des Pentagramms

Um der ritterlichen Wirklichkeit der Tempelritter näher zu kommen, soll hier eine zeitgenössische Quelle angeführt werden, die gleichzeitig eine Anknüpfung an die "König Artus Literatur" ermöglicht. "Sir Gawain and the Green Knight" heißt der Roman eines anonymen Autors, der im 14 Jahrhundert vermutlich im provinziellen Nordwestmittelengland zu Hause war. Die einzige Handschrift Cotton Nero A. x., in der der Roman überliefert ist, muß gegen 1400 entstanden sein, wobei aufgrund sprachlicher und inhaltlicher Kriterien gemeinhin zwischen 1360 und 1395 datiert werden kann [MAR1986 S.181]. Er ist der höfischste Ritterroman des 14. Jahrhunderts und hat als ideal dargestellter Artushof keine direkte Vorlage unter den höfischen Romanen des Kontinents.

Der Text in der Übersetzung von [MAR1986 S.45] spiegelt hier eine eigene Ordnung der Wirklichkeit wider:

"Darauf reichten sie ihm den Schild, der leuchtend rot und mit dem Pentagramm in reinstem Gold bemalt war - er faßt ihn beim Riemen [und] hängt ihn sich um den Hals -, der paßte sehr gut zu dem Mann, und warum das Pentagramm diesem edlen Ritter zugeordnet ist, möchte ich euch doch erzählen, wenn es mich auch aufhalten sollte: Es ist das Zeichen, das Salomo einstmals für die Treue verwendete, und es ist ein rechtmäßiges Symbol, denn es ist eine Figur, die fünf Ecken hat, und jede Strecke setzt sich fort und geht in die nächste über und hat nirgendwo ein Ende. Die Engländer nennen das allgemein, wie ich höre, den endlosen Knoten. Er paßt deswegen zu diesem Ritter und seinen glitzernden Waffen, weil Gawain fünffach tugendsam und bei jeder dieser Tugenden wiederum durch fünf treffliche Eigenschaften bekannt war und weil er rein war wie geläutertes Gold, frei von jedem unhöfischen Wesen [und] mit allen Rittertugenden ausgestattet. Daher trug er das frisch gemalte Pentagramm auf Schild und Waffenrock als ein in Wort und Tat äußerst zuverlässiger und sehr vorbildlicher Ritter. Erstens hielt man ihn für makellos in bezug auf seine fünf Sinne, ferner fehlte der Ritter niemals mit seinen fünf Fingern; sodann galt sein tiefstes Vertrauen den fünf Wunden, die Christus, wie das Glaubensbekenntnis sagt, am Kreuz empfing; und wo immer dieser Ritter im Kampfe stand, war sein beständigster Gedanke vor allen andern, daß er seinen Miut von den fünf Freuden empfing, die die huldreiche Himmelskönigin [Maria] an ihrem Kinde hatte. Aus diesem Grunde hatte der Ritter auf der Innenseite seines Schildes ihr Bild wunderbar aufgemalt, damit ihm, wenn er es anblickte, der Mut nicht sank. Die fünfte Fünfergruppe [von Tugenden], die ich von dem Ritter beachtet sehe, setzt sich zusammen aus Edelmut und unbegrenzter Nächstenliebe, aus seiner Reinheit und Höfischkeit, die stets ungetrübt waren, und grenzenlosem Mitleid - diese fünf reinen Tugenden waren dem Ritter mehr zu eigen als irgend jemandem sonst. Nun, wahrhaftig, fünf Tugendkombinationen charakterisierten den Ritter, und jede war mit den anderen durch die unendliche Verbindungslinie verknüpft und durch die fünf Grundeigenschaften an den Ecken markiert, die - immer zuverlässig - sich weder irgendwo zusammenfassen noch isoliert betrachten lassen, und so ließe sich das endlos von jeder beliebigen Spitze aus durchspielen, meine ich, wo immer man ansetzte oder wieder aufhörte. Dies also war der Grund, warum der "Knoten" auf Gawain leuchtendem Schild abgebildet und mit Rotgold auf das helle Rot aufgemalt war - das ist das makellose Pentagramm, wie es die Gebildeten nennen."

Das Pentagramms symbolisiert hier die höfische Ordnung der Wirklichkeit und ist deshalb in seiner Bedeutung vergleichsweise dem Symbol der "mystischen Leiter" des Ritter Kadosch zuzuordnen. Es war zwar auch vorher, bei den Pythagoreern, Neoplatonikern und Gnostikern schon als Symbol von Gesundheit und Vollkommenheit verwendet worden, aber im Mittelalter assoziierte man es vor allem mit Salomo und setzte es dem sechseckigen Judenstern, der aus zwei gleichseitigen Dreiecken besteht, gleich. Das Fünfeck wurde teilweise als heidnisches Symbol verurteilt, teilweise - wie hier - vom Christentum adoptiert [MAR1986 S.153].

Gawain als Protagonist der Artusgesellschaft ist in diesem Text zunächst der Inbegriff all der Normen und Werte, für die der Artushof steht. Der "endlose Knoten" faßt diese Normen und Werte im Pentagramm zusammen und gibt ihnen Namen. Mit diesem Symbol werden ritterlich-höfische und christlich-ethische Werte synthetisch in ein Bild gefaßt und als Ordnung der Wirklichkeit untrennbar miteinander verwoben. Erst die naht- und endlose Verbindung aller Einzelwerte macht den Ritter zu einem wahrhaft höfischen, zu einem idealen Ritter. Nur die Unversehrtheit aller einzelnen Teile bewahrt die Integrität des Ganzen bzw. die Ordnung der Wirklichkeit:

Obwohl die unlösbare Vernetzung von christlich-moralischen Werten mit weltlichen, mit höfisch-ritterlichen Normen im Vordergrund steht, wird vorab als herausragende Tugend angeführt, daß er "rein war wie geläutertes Gold".


Die symbolische Gesetzmäßigkeit in den Ordnungen der Wirklichkeit und der Areopag

Rituell klingt im Ritual des "Ritter Kadosch"-Grades auch der "Rache-Gedanke" (Vergeltung) an, der symbolisch in Zusammenhang mit der Hinrichtung des Tempelritters Jacob von Molay [RIT30GR S. 21], der im Jahre 1314 in Paris lebendig verbrannt [MIE1993] wurde, bearbeitet wird. Dabei soll die Rache des "Ritter Kadosch" allerdings nicht darin bestehen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Sie soll vielmehr durch einen unerbittlichen Kampf gegen weltliche und geistliche Diktatur verwirklicht werden. Das ganze spielt sich fiktiv vor dem Areopag ab. Areopag, übersetzt Areshügel (Fußnote 10), war ein Hügel westlich der Akropolis in Athen, auf dem bereits in der Frühzeit der Rat des Adels, aus den Archonten (Fußnote 11) bestehend, tagte. In der Zeit der Adelsherrschaft führte er alle Staatsgeschäfte und war gleichzeitig Staatsgerichtshof. Er wurde durch die Reformen Solons und besonders Kleistenes' eingeschränkt, durch Ephialtes 462 v. v. Chr. vollständig entmachtet und behielt nur die Blutgerichtsbarkeit und sakrale Delikte. Die Wiedereinsetzung als oberstes Regierungsorgan unter Hadrian (130 v. Chr.) blieb ohne Bedeutung. An dem zeitlichen und räumlichen Auseinanderliegen von geschichtlicher Handlung und Gerichtsort ist leicht zu erkennen, daß der Areopag hier symbolische Bedeutung haben soll. [FOR1992, viertes Buch, Seite 404] bemängelt im Zusammenhang mit dem Grad des "Ritter Kadosch": "Die Tatsache, daß die Freimaurer unserer Zeit, die doch Wesen und Ziel des ursprünglichen Bundes zutiefst verändert haben, dennoch Symbole beibehalten, deren Ursprung und eigentliche Bedeutung die meisten von ihnen wahrscheinlich gar nicht kennen, stellt einen weiteren Beweis dar für die Zählebigkeit der überlieferten Bilder, denen die Kulte noch lange Zeit verhaftet bleiben, auch wenn die Evolution des Bewußtseins sie längst ihres geistigen Gehalts beraubt hat."

Um die eigentliche Aussage des Symbols "Areopag" bestimmen zu können, soll das Verhältnis zwischen Symbol und Wirklichkeit näher betrachtet werden.

Unter der Überschrift "Symbol und Gestalt" setzt sich [HEI1942 S.279] näher mit dieser wechselweisen Beziehung auseinander: "An der Pforte, die vom Bereich des bloßen Bewußtseins zum Raum der geistigen Zusammenhänge führt, steht das 'Symbol'. Vielleicht ist es sogar berechtigt - so wenig wir einstweilen über diese Beziehung auch wissen - den ganzen Bereich der Wirklichkeit, der jenseits und über dem bloßen Bewußtsein als etwas Zusammenhängendes bezeichnet werden soll, mit diesem Wort Symbol zusammenzufassen. Denn alles Geistige, sei es in Sprache, der Wissenschaft oder der Kunst, beruht auf der Verwendung und auf der Kraft von Symbolen. Geistige Inhalte sind nicht an Körper gebunden, sondern werden durch Symbole weitergegeben. Dabei ist die symbolische Kraft eines Dings oder eines Vorgangs - ähnlich wie das Bewußtsein oder das Leben - etwas durchaus Objektives - oder vielleicht richtiger: Objektivierbares; eine Wirklichkeit, die nicht schwächer ist, als etwa die Wirklichkeit des Bewußtseins oder die eines biologischen Zusammenhangs; und hieße es, das Bild dieses Teils der Wirklichkeit verzerren, wenn man die symbolische Kraft nur als Realität zweiten Ranges gelten lassen wollte. Ähnlich wie die Existenz von Bewußtsein in keinem niederen Bereich der Wirklichkeit auch nur angedeutet ist, so kann auch die Tatsache, daß Dinge oder Bewegungen oder Laute etwas "bedeuten" können, aus keinem Zusammenhang einfacher Art vorhergesehen werden."

Am Beispiel der Kunst zeigt [HEI1942 S. 287] die Besonderheiten bei der Vermittlung von geistigen Inhalten mittels Symbolen: "Die Tatsache, daß geistige Inhalte in der Ordnung von Symbolen von Mensch zu Mensch übertragen werden können, gehört zu der Schicht der Wirklichkeit, die mit den Begriffen Geist oder Symbol abgegrenzt werden kannn, und ist keiner "Erklärung" durch Zusammenhänge in niederen Wirklichkeitsschichten fähig." [HEI1942] meint dann aber einschränkend, "daß die Ordnung von Symbolen nur dort geistige Inhalte tragen kann, wo sie unseren Sinnen unmittelbar, d.h. ohne den Umweg über das rationale Denken zugänglich ist".

Im Areopag wurde bei der Führung der Staatsgeschäfte und Ausübung der Gerichtsbarkeit über Krieg und Frieden, über Leben und Tod entschieden. Der Areopag muß demnach ein übergeordnetes Symbol sein, das sich nicht nur an den einzelnen Menschen sondern an die menschliche Gemeinschaft, im Extrem an die Völkergemeinschaft, wendet. [HEI1942 S. 292] untersucht solche Zeichen und nimmt unter dem Titel "Symbole menschlicher Gemeinschaften" Zuordnungen vor: "Der Zusammenschluß großer menschlicher Gemeinschaften vollzieht sich stets unter einem solchen "Zeichen" [Symbol]. So wurde die Kultur des Abendlandes seit dem Ausgang der Antike durch das Kreuz zusammengehalten, und das Deutsche Reich im Mittelalter war unter der Kaiserkrone vereinigt. Ein Symbol, das für lange Zeiten eine große Gemeinschaft repräsentiert, wird häufig auch zum Symbol einer bestimmten Rechtsordnung, als der mündlich überlieferten oder schriftlich niedergelegten Form, in der das Leben der Gemeinschaft sich vollzieht. Die Rechtsordnung selbst kann als ein besonderer Teilbereich aus der Wirklichkeitsschicht der Symbole betrachtet werden. Tatsächlich enthält ja die Rechtsordnung in ihren Grundbestandteilen alle charakteristischen Elemente dieser Wirklichkeitsschicht. Erstens setzt jede Rechtsordnung die Existenz gewisser spezialisierter Symbole voraus, der Rechtsbegriffe, die erst die Formulierung des Rechtes ermöglichen; dann aber, und das ist das Entscheidende, ist sie eben eine "Ordnung", d.h. sie verkörpert das Grundelement dieser Wirklichkeitsschicht schlechthin, die Wiederholung gleichartiger oder irgendwie entsprechender Dinge."

Der Areopag symbolisiert, ergänzt um das Symbol der "mystischen Leiter", daher nicht mehr die Verurteilung und die Rache, sondern die gesetzmäßigen Ordnungen der Wirklichkeit, ohne die keine Gemeinschaft im Kleinen wie im Großen dauerhaft existieren kann.



* * *



Fußnoten

  1. Altes Testament, 5. Buch Mose

  2. Altes Testament, 1. Buch Mose

  3. Der Apotheker Cadet-Gassicourt war der ungenannte Autor der 1797 erschienenen Streitschrift 'Le Tombeau de Jacques Molay' (Das Grab des Jacques Molay), mit welcher er als abtrünniger Freimaurer vorgab, die subversiven Umtriebe der templerischen Systeme enthüllen zu wollen. [FOR1992, viertes Buch, Seite 215]

  4. Gemeint ist das musivische Pflaster auf der Arbeitstafel.

  5. Matthäus 5,8: "Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen."

  6. a priori: lat. vom Früheren her, von der Erfahrung oder Wahrnehmung unabhängig, rein begrifflich, aus Vernunftgründen; von vornherein.

  7. Apperzeption: (bewußte Wahrnehmung), aktive Aufnahme eines (sinnlich) Gegebenen ins Bewußtsein.

  8. Apriori: Vernunftsatz, Inbegriff der Erkenntnisse, die a priori gewonnen werden; apriorisch: allein durch Denken gewonnen, aus Vernunftsgründen erschlossen.

  9. Apollon: röm. Apollo, Apoll, griechischer Gott, mit Beinamen auch Phoibos oder Phöbus ("der Reine, Strahlende"); Sohn des Zeus u. der Leto, Zwillingsbruder der Artemis. In ihm verehrten die Griechen die geistige Macht von Ordnung, Maß u. Einsicht. Apollon ist der Gott des Lichts, der Jugend, der Dichtung u. der Musik, der Heilkunde u. der Weissagung; Schutzherr der Musen (Beiname Musagetes), der Herden, der Schiffahrt. Hauptheiligtümer waren Delos u. die Orakelstätte Delphi [BER1995].

  10. Ares, griech. Kriegsgott, Sohn des Zeus und der Hera; als wilder Gott des zerstörenden, leidvollen Krieges wenig beliebt, war er sogar den Göttern verhaßt und wurde kaum kultisch verehrt [IRM1985].

  11. Archon, griech. "Regent", einer der neun jährlich gewählten höchsten Beamten Athens. An der Spitze der inneren Verwaltung stand der Archon Eponymos, nach dessen Namen das Jahr benannt wurde und der den Vorsitz im Gericht führte. Der Archon Basileus leitete die öffentlichen Opfer und religiösen Feste; der Polemarchos hatte den Oberbefehl über das Heer inne. Die Jurisdiktion fiel einem innerhalb des Archonats stehenden Sechsmännerkollegium zu. War noch nach Solon das Amt des Archon Eponymos als mögliche Vorstufe zur Tyrannis umkämpft, ging die Macht der Archonten mit fortschreitender Demokratisierung zurück. Seit Kleisthenes war das Archonat nur ein Ehrenamt [IRM1985].



Bibliographie