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Freimaurerei, Freimaurerlogen, Freimaurer





Fritz Hinz

Vom Stil der Freimaurer

Seit einiger Zeit spürt man eine deutliche Unruhe unter den Freimaurern. Bewegung ist in ihre Reihen eingezogen und macht sich überall bemerkbar. Vielen Brüdern passiert zu wenig. Sie fürchten, daß wir ins Hintertreffen geraten. Sie sorgen sich, daß die Freimaurerei an Bedeutung verliert, der heutigen Zeit, der Zukunft nichts mehr zu bieten hat und unter feierlicher Berufung auf eine ruhmreiche und tatenvolle Vergangenheit langsam einschläft. Nun beschränkt sich diese Unruhe nicht allein auf unseren Bund. Sie ist überall zu finden. Diese Unruhe ist konstruktiv und der Gleichgültigkeit und der Selbstzufriedenheit vorzuziehen. Sie führt zur Besinnung, zwingt zur Kritik, und weil ich meine, daß unser Gedankengut, also die Freimaurerei durchaus in Ordnung ist, lebenskräftig und voller Weiheit, Stärke und Schönheit, kann sich diese Kritik nur auf die Freimaurer beziehen. Mit ihnen will ich mich befassen, mit ihrer Haltung, ihrer Ausdrucksweise, mit der Form, in der sie ihr Logenleben praktizieren, mit ihrem Stil also.

Was ist Stil? Stil ist Haltung und Ausdrucksweise, die für eine geistige Grundanschauung oder Einstellung charakteristisch und angemessen sind. Entspricht die Form, also die Haltung und Ausdrucksweise dem Inhalt, also der geistigen Grundanschauung, dann ist alles in Ordnung, dann hat sie Stil. Entspricht sie ihr nicht, dann bemerkt man eine Diskrepanz zwischen Form und Inhalt, die als abgeschmackt, peinlich oder sogar ärgerlich empfunden wird. Haltung, Auftreten und Ausdrucksweise sind stillos. Je anspruchsvoller die Grundanschauung ist, die stilvoll vertreten werden soll, um so peinlicher wirken Worte und Taten, die ihr nicht entsprechen. Mit einigem Recht erscheint dann nicht nur der Vertreter sondern leicht auch die von ihm vertetene Sache unglaubwürdig, hohl und fadenscheinig. Die Freimaurerei hat es da nicht leicht. Sie ist keine hierarchisch gegliederte Organisation, die sich geschulter und erfahrener Funktionäre bedient, um mit wohlabgewogenen Formulierungen vor die Öffentlichkeit zu treten. Kleine Logenverbände, souverän und keinem Dogma verpflichtet, reden, schreiben und handeln nach eigenem Ermessen.

So viel vom Stil; jetzt ein paar Worte zum freimauerischen Gedankengut, das die Freimaurer stilvoll vertreten sollen. Ich benutze die Verfassung unseres Bundes, welche es so formuliert:

In den Mitgliedslogen der Großloge arbeiten Freimaurer, die in bruderschaftlichen Formen und durch überkommene rituelle Handlungen menschliche Vervollkommnung erstreben. In Achtung vor der Würde jedes Menschen treten sie ein für die freie Entfaltung der Persönlichkeit und für Brüderlichkeit, Toleranz und Hilfsbereitschaft und Erziehung hierzu.
Glaubens-, Gewissens- und Denkfreiheit sind den Freimaurern höchstes Gut. Freie Meinungsäußerung im Rahmen der Freimaurerischen Ordnung ist Voraussetzung freimaurerischer Arbeit.
Die Freimaurer sind durch ihr gemeinsames Streben nach humanitärer Geisteshaltung miteinander verbunden; sie bilden keine Glaubensgemeinschaft.
Sie sehen im Weltenbau, in allem Lebendigen und im sittlichen Bewußtsein des Menschen ein göttliches Wirken voll Weisheit, Stärke und Schönheit. Dieses alles verehren sie unter dem Sinnbild des Großen Baumeisters aller Welten.
Die Freimaurer nehmen in ihre Bruderschaft ohne Ansehen des religiösen Bekenntnisses, der Rasse, der Staatsangehörigkeit, der politischen Überzeugung und des Standes freie Männer von gutem Ruf als ordentliche Mitglieder auf, wenn sie sich verpflichten, für die Ziele der Freimaurer an sich selbst zu arbeiten und in den Gemeinschaften, in denen sie leben, zu wirken.
Bei seiner Aufnahme schließt der Freimaurer mit seinen Brüdern einen Bund fürs ganze Leben.
Die Großloge und ihre Mitgliedslogen nehmen in konfessionellen oder parteipolitischen Auseinandersetzungen nicht Stellung.

Die Unruhe, von der eingangs die Rede war und die hauptsächlich die Jüngeren unter uns erfaßt hat, bezieht sich nicht auf das freimaurerische Gedankengut, wohl auch nicht auf die Form, in der wir es nach alter Tradition erleben, d. h. auf unser Ritual und alles, was damit im engeren oder weiteren Sinne zusammenhängt, wie die Freimaurerische Symbolik, Bekleidung usw.; auch nicht auf die Art und Weise, wie dieses rituelle Gut nach außen abgeschirmt wird, also auf die Geheimhaltung, und nicht auf die Organisationsform unseres Bundes, sondern auf die Tatsache, daß wir in der Gesellschaft keine wahrnehmbare Rolle spielen. Sie bezieht sich auf unsere Aktivität. Alle und jeder melden sich zu Wort: Die Kirchen, politische Parteien und außerparlamentarische Gruppen, Studenten, Schriftsteller, weltanschauliche und wirtschaftliche Organisationen, nur die Freimaurerei ist stumm. Hat sie der Welt gar nichts zu sagen?

Hierzu zunächst eine allgemeine Betrachtung. Der Mensch ist ein soziales Wesen, Mitglied der menschlichen Gesellschaft und Teil eines vielfältigen komplizierten Organismus. Zugleich ist er eine Persönlichkeit, ein eigener in sich geschlossener Organismus, begabt mit Verstand und Vernunft; das ermöglicht ihm Erkenntnis und Urteil. Er lebt nicht nur in der konkreten Welt der Realitäten, sondern auch in der abstrakten Welt des Geistes, in der Freiheit der Begriffe und Gedanken, in der sich die Wirklichkeit spiegelt, oder erst entsteht und geschaffen wird. Das ist die eigentlich menschliche Welt, das große Reich der Wahrheit und Schönheit, das Reich der Kultur, der Bildung, der Kunst und Wissenschaft, der Philosophie, der Poesie, der Musik.

Wahrheit ist nach einem frei zitierten Wort Oswald Spenglers etwas von uns selbst Unabhängiges, Feststehendes. Sie ist zeitlos abgelöst von den einfachen Tatsachen unseres eigenen Lebens und Sterbens. Sie befreit innerlich, tröstet und erlöst, denn die unberechenbaren und unbedeutenden Geschehnisse der Tatsachenwelt werden durch sie überwunden. In der Umwelt wird damit etwas festgestellt, d. h. gebannt. Der verstehende Mensch hat das Geheimnis in Händen, sei es vor Zeiten ein mächtiger Zauberspruch oder heute eine mathematische Formel. Ein stolzes Gefühl begleitet ihn bei jeder gefundenen Wahrheit, sei es eine neue Erkenntnis im Reiche der Natur oder auf dem abstrakten Gebiet des Denkens, mit der man etwas Neues in den Griff, besser gesagt, in den Begriff bekommt und es einordnet in das System der kausalen Beziehungen. Das sind die erregenden Abenteuer des Geistes im Reiche der Wahrheit, mit denen immer wieder ein neues Stück der Welt erobert oder geschaffen wird.

Anders ist das Erlebnis des Schönen im Reiche der Kunst. Es ist jene Seligkeit des reinen, willenlosen Schauens, die Erhöhung des Bewußtseins über das Vielfältige hinaus. Dieses Erlebnis rührt unser Gemüt an, läßt uns die ganze Wahrheit auf einem anderen Wege fühlen, fügt uns harmonisch in den größeren Zusammenhang des Physischen und Metaphysischen ein und versetzt uns in den ästethischen Zustand der intensivsten, heitersten, klarsten und tief beruhigenden Anschauung, in dem es keiner Begriffe bedarf, um das Wesentliche zu empfinden. Die geistige Durchdringung, Erfassung und Beherrschung unserer Welt und ihr künstlerisches Erleben ist eine große Aufgabe des Menschen. Das sind Bausteine, die die Persönlichkeit bilden. Ich habe ein Alterswort Goethes gefunden, das sich hier passend einfügt:

Wer nicht von dreitausend Jahren
sich weiß Rechenschaft zu geben,
bleibt im Dunklen unerfahren,
mag von Tag zu Tage leben.

Neben Verstand und Vernunft mit der Möglichkeit der Erkenntnis und des Urteils ist der Mensch mit der Fähigkeit ausgestattet, Gut und Böse zu unterscheiden. Das gibt ihm Verantwortung für sein Tun und Lassen vor seinem Gewissen und vor seinem Schöpfer. Urteil und Verantwortung machen ihn zu einem moralischen Wesen, verpflichten ihn zu ethischem Handeln und lassen ihn an seine Bestimmung und an den Sinn des Lebens denken. Zu seinen physischen Bedürfnissen tritt das metaphysische, in Religiöse transzendierende Bedürfnis. Es wächst, wie Thomas Mann es in seinem Buch von Joseph und seinen Brüdern formuliert, die Überzeugung, daß ein Leben und Geschehen ohne den Echtheitsausweis höherer Wirklichkeit, welches nicht auf Heilig-Bekanntem fußt und sich darauf stützt, sich in nichts Himmlischem zu spiegeln und darin wiederzuerkennen vermag, überhaupt kein Leben und Geschehen ist. In der Beziehung zwischen dieser höheren Wirklichkeit und uns selbst liegt die ganze Bedeutung der Persönlichkeit begründet. Aus ihr wird sie zum Mittelpunkt aller Dinge und vor ihr trägt sie die ganze Last der irdischen Welt auf ihren Schultern. Ihr Wesen wäre nur unvollkommen beschrieben, wenn ich ihre quälende moralische Verantwortung nicht deutlich genug erwähnen würde und die sich daraus ergebende Sehnsucht nach Erlösung und nach dem Frieden und Heil der Seele. Das ist der individuelle und persönliche Aspekt der menschlichen Existenz, für den das Bibelwort gilt:

Was nütze es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne
und nähme doch Schaden an seiner Seele.

Aus dieser eigentlich menschlichen Sphäre der Wahrheit, Schönheit und Moral stammen die Begriffe Humanität, Liebe, Brüderlichkeit, Menschenwürde und Toleranz, die uns Freimaurern soviel bedeuten. Dagegen steht als Realität die Gesellschaft, in die wir uns gestellt sehen, der politische Aspekt unserer Existenz. Den Begriff "politisch" habe ich gewählt, weil ich keinen besseren weiß, der die ganze praktische Aktivität der Gesellschaft, wie Wirtschaft, Recht, Sicherheit, Sozialpolitik und Staatsorganisation umfaßt. Von Hause aus ist die Politik amoralisch. Sie mißt sich, ihre Ziele und Erfolge mit einem anderen Maßstab als das Individuum. Sie fragt nicht nach Gut und Böse sondern nach Zweckmäßigkeit. Wenn ich von ihrer Entartung absehe, die im Umgang und Mißbrauch der Macht liegt und von der ich hier nicht weiter sprechen will, obwohl sie eine große und verhängnisvolle Rolle spielt und diese Bestimmung behindert, ist es ihre eigentliche Bestimmung, die Sicherheit und das Wohlergehen der meisten zu fördern und sicherzustellen. Ganz simpel ausgedrückt: Sie will die Menschen nicht glücklich, sondern satt machen. Für die Politik ist gut, was den meisten nützt, und böse, was ihnen schadet. Nach dem Prinzip der größten Effektivität organisiert sich die Gesellschaft nicht nach moralischen oder religiösen Grundsätzen. Es ist Träumerei, sie nach idealen Vorstellungen ausrichten zu wollen. Die gelten nur für das Individuum.

Die Gesellschaft lebt und entwickelt sich nach politischen, ökonomischen und sozialen Normen und Gesetzen, wobei das vollkommen Unsittliche hier allerdings auch das Unökonomische, Lebens- und Gesellschaftsfeindliche ist. Zwei Welten und Maßstäbe stehen einander gegenüber: Moral und Zweckmäßigkeit, gut und nützlich. Aber Moral ist nicht gleich Zweckmäßigkeit und gut nicht gleich nützlich. Das Individuum wird am guten Willen, die Politik am Erfolg gemessen. Werden diese Maßstäbe vertauscht, wendet sich das Individuum von der Moral ab und denkt und handelt es nur nach dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit und des größten Nutzens, so führt das zur Unmenschlichkeit und Brutalität. Organisiert sich andererseits die Gesellschaft nach moralischen Grundsätzen und läßt die politischen, ökonomischen und soziologischen Normen und Gesetze außer acht, die sich auf Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit und Erfolg gründen, so führt das zum Chaos. So sind auch alle Religionen gescheitert und haben sich in tiefe Schuld verstrickt, die versucht haben, die Realitäten in ihrem Sinne zu ändern. Der Gottestaat des Kirchenvaters Augustinus bleibt Utopie, aber die Religion lebt und wirkt weiter. In demokratisch organiserten Gemeinwesen herrscht der Kampf in Form des Wettbewerbs als Vater aller Dinge und als Motor des Fortschritts. In der Politik der Diktaturen ist es der Zwang oder anders gesagt: Es sind zwei Kräfte, die den Menschen das Nützliche tun lassen, der persönliche Vorteil auf der einen und die Gewalt auf der anderen Seite.

Wer Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Entsagung, das sittliche Fundament aller großen Weltreligionen oder praktiziertes Christentum im Sinne der Bergpredigt zur Grundlage des politischen Lebens in der heutigen Zeit machen wollte, würde, wenn er die Macht dazu hätte, die Welt schnell in ein unbeschreibliches Elend führen. In unserer Zeit sollten wir dafür arbeiten, daß wir die Vernunft, das höchste Kontrollorgan der Zweckmäßigkeit, und mit ihr die Methode, Probleme des politischen Lebens, darunter auch die des Gebrauchs der Macht, ökonomisch und nicht ideologisch, pragmatisch und nicht dogmatisch zu lösen, mehr und mehr zur Geltung bringen und zu einer unabhängigen Institution etablieren.

Am Ende dieser Betrachtung, die zwei Aspekte des menschlichen Lebens, den individuellen und den politischen einander gegenüber gestellt hat, sollte das Bibelwort stehen:

Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist,
und Gott, was Gottes ist.

Aber was hat das alles mit unserem Thema zu tun? Nun, wenn wir über Stil sprechen, dann müssen wir uns auch klarmachen auf welcher der beiden hier geschilderten Seiten der menschlichen Existenz die Aufgaben liegen, die der geistigen Substanz unseres Bundes entsprechen und welcher von ihnen unsere freimaurerische Arbeit gehören soll. Ich glaube, wir haben verstanden, daß die Freimaurerei eine Bildungs-, Erziehungs- und Kultgemeinschaft ist und keine politische Partei. Wenn aber Stil die charakteristische und angemessene Haltung und Ausdrucksform für eine geistige Grundeinstellung ist, eine Verschmelzung des Sachlichen mit dem Persönlichen, wie man es auch nennen kann, dann muß der Stil der Freimaurer von der Arbeit an der eigenen Persönlichkeit, von der Arbeit am rauhen Stein geprägt sein. Weisheit leite sie, Stärke führe sie aus und Schönheit vollende sie. Wenn Sie es genau bedenken, dann erkennt man in dieser Arbeit im kleinen Kreise der Logenbrüder, die nur auf die persönliche Entwicklung abgestellt und auf den großen Anspruch verzichtet, die Umwelt zu beeinflussen oder zu verändern, die nur der Wahrheit, Schönheit und Moral hingegeben ist, die elitäre Haltung unseres Bundes, bei der es dem Freimaurer auf sich selbst und auf seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, nicht auf die Wirkung nach außen in diese hinein ankommt. Das Ziel ist nicht Hochmut oder Besserwisserei, sondern Zucht und Selbstzucht, ein Kennzeichen aller Eliten. Sie allein führt auch zur Freiheit, denn wirkliche Freiheit gibt es ja nur für den Einzelnen.

Das erscheint, wenn Sie mir in den Voraussetzungen folgen, logisch und schlüssig und doch erleben wir immer wieder, wie versucht wird, die schmerzhafte und mühselige Arbeit am eigenen durch die weit bequemere Arbeit an anderen rauhen Steinen zu ersetzen. Was anderes sind die hochherzigen Appelle, die uns überreden wollen, dieses zu sein und jenes zu tun. Der eine spricht vom Freimaurer und seinem unermüdlichen Fleiß, seiner vorbildlichen Brüderlichkeit oder wärmt sich an seinen Bürgertugenden. Ein anderer ruft alle Brüder zur Tat auf und will ihnen am liebsten die Sammelbüchse in die Hand drücken. Was nützt denn unsere schöne geistige Arbeit mit ihren sittlich bedeutsamen Ergebnissen, so fragt er, wenn wir nicht Mittel und Wege haben, sie in die Tat umzusetzen. Das ist gut und tapfer gefragt, und wer meint, ich hielte nichts von praktischer Humanität, christlicher Nächstenliebe und politischer Aktivität, der hätte mich gründlich mißverstanden. Ich weiß sehr wohl, daß es in allen Zeiten gute und edle Menschen gegeben hat, die sich um Wahrheit, Schönheit und Moral ehrlich bemüht haben, aber Leibeigenschaft und Kinderarbeit konnten sie mit ihren reinen Herzen nicht verhindern oder beseitigen.

Zur Änderung gesellschaftlicher Zu- und Mißstände genügt Herzensgüte und Seelengröße nicht, dazu braucht die Menschheit Kämpfernaturen mit entsprechender Berufung und Begabung. Ihr Kampf spielt sich in der Öffentlichkeit ab, in politischen Parteien oder Organisationen, aber das ist nicht die Arena der Freimaurerei. Die freimaurerische Bekleidung ist kein Kampfanzug. Außerdem sind die Menschen verschieden, das ist ihr Recht, und anders sein heißt nicht unbedingt schlechter sein. Nicht jeder Freimaurer ist willens oder geeignet, politisch zu wirken, und es wäre bedenklich, wenn wir uns alle für berufen hielten oder einander einreden wollten es zu sein, gesellschaftliche Verhältnisse zu ändern. Wenn aber dieser und jener meint, er müßte das, dann sollte er den zweiten Schritt nicht vor dem ersten tun, womit ich meine, daß jeder Aktivität nach außen eine ernste Arbeit nach innen vorausgehen sollte. Die Arbeit nach innen ist unsere Aufgabe! Die eine fordern heißt nicht auf die andere verzichten. Wir müssen uns nur darüber klar sein, daß Freimaurerei die Arbeit am rauhen Stein ist, und die führen wir mit unseren Werkzeugen in unseren Logen, gemeinsam mit unseren Brüdern vorurteilsfrei und tolerant aus; die Arbeit nach außen, an der Gesellschaft, wenn wir uns dazu berufen fühlen, in der Öffentlichkeit, in den dazu geeigneten Organisationen. Eine solche ist unser Bund nicht, denn Freimaurerei ist esoterisch und apolitisch und grenzt sich gerade dadurch ab, daß sie kein Mitglied auf eine Überzeugung oder ein Bekenntnis verpflichtet; sie nimmt nicht Partei in politischen oder konfessionellen Auseinandersetzungen.

In unseren Logen sind alle Religionen, Parteien und Interessen vertreten. Sie sind Stätte, wo sich das Unterschiedliche, Widersprüchliche brüderlich begegnet. Da wird in der Auseinandersetzung der geistige Abstand zur eigenen Überzeugung erreicht, die jedem Teilnehmer größere Klarheit bringt und manchmal auch die Einsicht vermittelt, daß viele Wege nach Rom führen. Das Ziel ist, den eigenen festen Standpunkt zu schaffen, von dem aus man die Welt und ihre drängenden Fragen sicher und ruhig ins Auge fassen kann, den Maßstab zu finden, mit dem man in der Lage ist, die Vielfalt zu ordnen und jedem Problem seinen Wert und seine Bedeutung für ein menschliches Weltbild zuzumessen. Die geistige Arbeit in Verbindung mit rituellem und künstlerischem Erlebnis in brüderlicher Gemeinschaft - und Brüderlichkeit bedeutet auch fröhliche Geselligkeit - muß den Stil der Freimaurer prägen. Ein Männerbund, dessen Wurzeln so tief in die Vergangenheit hineinreichen, in dessen rituellem Leben sich uralte Weisheit spiegelt, hat ein Gefühl für Tradition, und es ist guter Stil, diese mit liebevollem Ernst zu pflegen. Sein besonderes Verhältnis zum Leben und vor allem auch zum Tode führt, wenn es ganz empfunden wird, zur Gelassenheit und schafft die richtige Distanz zu der sich ständig verändernden Umwelt und zu ihrer geistigen und sachlichen Problematik. Gelassenheit und Distanz sollten uns auszeichnen, wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen.

Auseinandersetzung heißt nicht Kapitulation. Wir brauchen den Maßstab, den wir uns in ernster Arbeit geschaffen haben, nicht gleich fortzuwerfen, wenn wir mit der modernen Sucht zur perfekten Analyse konfrontiert werden, welche die alten Wertvorstellungen zerkleinert und seziert, bis alles Leben daraus verschwunden ist, bis alles Leben seinen Sinn verloren hat. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, dem Leben einen Sinn zu geben. Wir müssen den Maßstab benutzen, um das Neue damit zu messen und das Alte dagegen abzuwägen und zu prüfen, ob es uns wirklich weiterführt, weiter zur Wahrheit oder zur Humanität. Das schöne, alte und ehrwürdige Gefäß, mit dem ich die Freimaurerei vergleichen möchte, darf nicht verstauben, sein Inhalt eintrocknen. Bei aller Ehrfurcht vor der Tradition haben wir dafür zu soren, daß unter ihm stets ein kräftiges Feuer brennt. Brodeln muß es in unserem Kessel. Wenn ich auch gegenüber der modernen geistigen Entwicklung und dem sich stürmisch vollziehenden technischen, politischen und ökonomischen Fortschritt Gelassenheit empfehle, so haben wir uns doch immer wieder zu fragen, und auch das gehört zu unserem Stil, wenn wir nicht auf der Strecke bleiben wollen, ob die alten freimaurerischen Begriffe wie Brüderlichkeit, Toleranz, Mildtätigkeit und Humanität heute nicht anders oder weitergehend interpretiert werden müssen als vor 250 Jahren.

Der mittels Maßstab erarbeitete eigene Standpunkt ist die bedeutsamste Voraussetzung zur Entwicklung der Persönlichkeit. Hat man ihn gefunden, dann ist man zwar vor Korrekturen nicht sicher - Änderungen des Standpunktes sind keine Schande - aber man findet aus der Masse und ihrem konformen Denken und Handeln heraus, zu der die heutige Gesellschaft insgesamt neigt. Ich habe sehr oft das Gefühl, daß die Freimaurer befürchten, den Anschluß an die Massengesellschaft nicht zu finden, selbst sogar zu ihr gehören wollen und sich nur noch etwas zieren, offiziell zuzugeben, daß sie bereit sind, den Preis zu bezahlen, den die Masse verlangt, nämlich die Aufgabe ihres elitären Charakters und den Verzicht auf den schweren Weg zur eigenen Persönlichkeit und zur unabängigen Meinung. Zum Stil der Freimaurerei gehört das unabhängig und frei geführte weltanschauliche Gespräch, die Pflege von Kunst und Kultur, Gelassenheit gegenüber allem, was von außen herandrängt und, weil auch ein wenig "Magie" mit im Spiel ist, die Symbolik, das Sich-Wiederfinden im Altvertrauten, das heitere Wissen und der Blick für die höhere Wahrheit, die sich im Wirklichen darstellt. Wenn wir den Weg zur Entwicklung der Persönlichkeit konsequent beschreiten, wird auch die Freimaurerei weiterleben; dann werden aufrechte Menschen weitere aufrechte an sich ziehen, wie sie es schon immer getan haben.