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M. W.

Vorurteil und Erfahrung

- oder -
Bärenfell und Selbsterkenntnis

Nach intensiver Beschäftigung mit der Thematik der Vorurteile und Erfahrungen freut es mich, heute in diesem Kreis das Ergebnis zur Diskussion stellen zu dürfen. Die Beschäftigung mit den scheinbar einfachen Begriffen "Vorurteil" und "Erfahrung" führte mich direkt zum Kern der Freimaurerei, wie ich sie bislang verstanden und erlebt habe. Darüber hinaus ergaben sich einige interessante Folgerungen, wie sie der Titelnachsatz "Bärenfell und Selbsterkenntnis" andeutet.

Der vorliegende Bauriß gliedert sich in vier Abschnitte.


1. Abschnitt: Formale Definition der Begriffe "Vorurteil" und "Erfahrung"

Vorurteile sind fester Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens. Der Begriff "Vor-Urteil" beinhaltet den Begriff "Urteil". Man könnte sagen, ein Urteil wird gefällt, noch bevor es die Sachkenntnis erlaubt. Hierzu sei zunächst "Urteil" definiert:

1) Begriff aus der Logik; Satz, der die Wahrheit oder die Falschheit einer Aussage behauptet. Urteile werden nach ihrem Geltungsbereich (einzelne oder besondere), ihrer Ausrichtung (bejahend oder verneinend) und ihrem Gewißheitsgrad (kategorisch oder hypothetisch) unterschieden.

2) Begriff aus der Rechtsprechung; Finale Aussage des Richters, die den Prozeß (gerichtlichen) entscheidet. Je nach Prozeßordnung ergeben sich verschiedene Urteile und daraus resultierende Konsequenzen. In jedem Fall dient ein gerichtliches Urteil zur Feststellung von Recht und Unrecht im juristischen Sinn, das heißt nach geltender Rechtsprechung.

Für die weiteren Erörterungen ist der erste Teil der Definition von Bedeutung. Ein Urteil liefert demnach eine Behauptung über Wahrheit oder Falschheit von Aussagen. Die mathematische Logik erlaubt es, die Behauptung, d.h. das Urteil, zu beweisen oder zu widerlegen. Hierzu steht ein reichhaltiges Instrumentarium der mathematischen Beweisführung zur Verfügung. Doch wie verhält es sich mit anderen Bereichen unseres Lebens? Dort ist die logische Beweisführung nicht möglich.

Im sogenannten Alltag, im komplizierten zwischenmenschlichen Bereich und schließlich in der Religion ist die Beweisführung zur Überprüfung von Urteilen a priori nicht möglich. An Stelle des mathematischen Beweises treten Vermutungen, bürgerliches Gesetzbuch, Psychoanalyse oder Glauben. In all diesen Bereichen sind Vorurteile beheimatet. Urteile werden gefällt, noch bevor die Tragweite und die Hintergründe in aller Klarheit vorliegen. Vorurteile spielen eine Rolle bei der Beurteilung der Realität und bei der Interpretation des Wahrgenommenen. Eine treffliche Definition des Begriffes "Vorurteil" ist die folgende:

Ein Vorurteil ist die

"die unkritische Übernahme von Ansichten, Meinungen und Erwartungen ohne ausreichende persönliche Urteilsbildung oder Kenntnis der Erfahrungsbasis." So wird beim "sozialen Vorurteil" auf Grund äußerer Merkmale (z.B. Hautfarbe, Sprechweise, Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen) auf damit zusammenhängende Charaktereigenschaften geschlossen. Die Summe dieser scheinbaren oder vermuteten Eigenschaften bildet ein Stereotyp oder Klischee. Geht man einen Schritt weiter, so drücken Vorurteile die nicht sachlich begründete negative Einstellung gegenüber anderen Gruppen (u.U. Minderheiten) aus, die sich in Form von Feindseligkeiten oder Aggressivität äußern können. Hier spricht man von Diskriminierung.

Wie der Titel der Zeichnung besagt, ist die Erfahrung - und hier ist vor allem die persönliche Erfahrung gemeint - sehr eng mit dem Begriff "Vorurteil" verknüpft. Folgende Definition stellt die Bedeutung des Begriffs "Erfahrung" heraus.

Erfahrung bedeutet:

".. das durch Speichern wiederholter Erlebnisse erworbene Wissen. Im Unterschied zu dem durch Denken vermittelten; auch die durch lange Praxis erworbene Geübtheit in der Ausführung bestimmter Handlungen. Philosophisch ist Erfahrung eine Form der Erkenntnis (Empirie). Äußere Empirie bezeichnet die Wahrnehmung von Erscheinungen durch die äußeren Sinne. Innere Empirie meint die retrospektive Erfassung von Bewußtseinsinhalten. Die Erfahrungswissenschaft macht die planmäßige Beobachtung und Versuch zu ihrer Hauptmethode."

Geht man davon aus, daß Vorurteile grundsätzlich negativ zu werten sind, so fällt die Wertung von Erfahrung deutlich schwerer. Erfahrung drückt aus, daß Wissen angesammelt wurde. Wird dieses Wissen positiv eingesetzt, etwa um Fehler zu vermeiden, so handelt es sich im Allgemeinen um positive Erfahrungen. Führt die Erfahrung zur Ablehnung von "Neuem", das heißt zum Festhalten an "Altem" oder "Bewährtem", so kann die Erfahrung sehr schnell negative Folgen haben. Derjenige wird die Erfahrung in Form von Vorurteilen äußern und sich durch Beharrungsvermögen bis hin zur Sturheit auszeichnen.


Die ersten einleitenden Definitionen und vorsichtigen Folgerungen zeigen, daß die Urteilsbildung gemeinhin Ergebnis eines individuellen, subjektiven Abwägungsprozesses ist. Geschieht die Urteilsbildung außerhalb des mathematisch beweisbaren Bereiches, befinden wir uns automatisch im unscharfen Entscheidungsbereich. Dort gelten bestenfalls die Gesetze der herrschenden Rechtsprechung. Grundsätzlich trifft man dort auf individuelle oder in Gemeinschaften geltende Vorurteile.


2. Abschnitt: Formen von Vorurteilen

Nach der Einleitung will ich nun versuchen, die vorgestellten formalen Definitionen auf eine etwas breitere Basis zu stellen. Hierbei stellt sich zunächst die Frage:

Wie äußern sich Vorurteile?

Zur Beantwortung dieser Frage sind zwei Ansätze möglich. Der erste Ansatz betrachtet die Vorurteile als individuelle Eigenschaft, die von jedem Einzelnen bewußt oder meist unbewußt gelebt werden. Ein zweiter Ansatz stellt Vorurteile in einen Gruppenkontext. Das bedeutet, Vorurteile sind Bestandteil von gruppendynamischen Prozessen, die das Verhalten des Individuums in der Gemeinschaft und das Wirken der Gruppe nach außen regeln.

Ansatz 1: Das individuelle Vorurteil
Die Bildung des individuellen Vorurteils vollzieht sich auf natürliche Art und Weise mit der Zugehörigkeit zu Familie und Gesellschaft. Jeder ist, wie Karl Marx sagte, Produkt seiner gesellschaftlichen Umstände seines Daseins. Keiner kann sich den Zwängen und Prägungen entziehen. Die Prägung, die für die Tierwelt in herausragender Art und Weise von Konrad Lorenz aufgezeigt wurde, führt dazu, daß wir vorbestimmte Denk- und Verhaltensweisen ab dem ersten Tag unserer Existenz annehmen. Gesellschaft, und im kleinen die Familie, werden somit zum prägenden Faktor und schaffen damit unbeabsichtigt die ersten Grundlagen für spätere Vorurteile.

Hieraus resultiert auf der anderen Seite die Hauptaufgabe der Erziehung. Erziehung soll Werte vermitteln und gleichzeitig die heranwachsenden Kinder dazu bringen, das Erlernte zu hinterfragen und kritisch zu prüfen. Dabei sollte aber die Erziehung nicht wie in den siebziger Jahren geschehen, auf Vorgaben und Gesetze ganz verzichten, sondern den Spielraum vorgeben. Gefragt ist die Animation zur Kritikfähigkeit, nicht die grenzenlose Freiheit, die ein Kind nicht verstehen kann. In jedem Fall wird das Kind geprägt, das bedeutet, es erlernt Verhaltensweisen und Denkweisen, die ganz wesentlich auf das Unterbewußtsein wirken. So wird ein Kind Erfahrungen mit einem sehr autoritären Vater später unbewußt auf z.B. Lehrer oder Vorgesetzte im Geschäft anwenden. Kritisch wird die Anwendung unterbewußter Handlungsmuster, wenn sehr schmerzhafte Erfahrungen damit verbunden sind. Hierzu liefert die Psychoanalyse, insbesondere Siegmund Freud, Ansätze, die versuchen, alle Handlungsweisen auf Kindheitserlebnisse zurückzuführen.

In jedem Fall schaffen Erlebnisse und Erfahrungen, die bis in das Kindesalter zurück datieren, Verhaltens- und Denkmuster, die sich in bewußten oder unbewußten Vorurteilen mit entsprechenden Verhaltensmustern manifestieren. Ergänzend muß noch gesagt werden, daß die Erfahrungssammlung, die zur bewußten oder unbewußten Vorurteilsbildung führt, nicht mit der Pubertät aufhört, sondern vielmehr ein fortwährender Prozeß ist, der uns bis zum Ableben begleitet.

Ansatz 2: Das Gemeinschaftsvorurteil
Gemeinschaften waren und sind meist bemüht, einen inneren Zusammenhalt und die Abgrenzung zu anderen Gruppen sicherzustellen. Ein Mittel zur Erreichung des Zusammenhalts sind kollektive Erfahrungen, die in Verbindung mit gemeinsamen Vorurteilen dazu führen, daß der Einzelne fest eingebunden wird. Zudem ist das Vorurteil gut geeignet, sich als Gruppe gegen konkurrierende Gruppen abzugrenzen.

Ein Beispiel aus der jüngsten deutschen Geschichte belegt die These von Gemeinschaftsvorurteil auf eindringliche Art und Weise. Die Nationalsozialisten verstanden sich glänzend auf den Aufbau von kollektiven Vorurteilen. Sie gingen sogar noch einen Schritt weiter und lenkten die Vorurteile so, daß daraus offene Aggressivität entstand und schließlich die bekannten Greueltaten möglich wurden. Schon sehr früh, ca. Anfang der 30er Jahre, wurde von ihrem Propagandaapparat die Schuldfrage am ersten Weltkrieg verklärt und Vorurteile gegen die europäischen Nachbarn aufgebaut. Diese Vorurteile in Verbindung mit den Erfahrungen der schlechten Nachkriegsjahre setzten sich tief im deutschen Volk fest. Es liegt nahe, darin auch die erschreckende Willenlosigkeit des deutschen Volkes in den folgenden Kriegsjahren zu sehen. Der zweite von den Machthabern des III. Reiches geführte Anschlag auf die Volksseele war die Kreation des Rassenvorurteils. Die Methodik und die ausgeklügelte Vorgehensweise ist in der Geschichte beispiellos und läßt tief in die menschliche Seele blicken. Scheinbar genügt es, Unwahrheiten genügend oft zu wiederholen, in allen möglichen Formen immer wieder auf den Tisch zu bringen, um einem ganzen Volk das Vorurteil des guten Deutschen und des schlechten Juden so einzuimpfen, daß es bereit war, dem jüdischen Volk auch aus juristischer Sicht die Existenzberechtigung abzusprechen. Hierin lag, man wagt es kaum auszusprechen, eine geniale Leistung der Nationalsozialisten.

Das Beispiel des Dritten Reiches zeigt auch die Wirkung der Vorurteile im Inneren. Die Vorurteile, die sich schließlich zum Haß und offener Aggression nach außen entwickelten, fanden gleichermaßen Anwendung zur Unterdrückung der Individuen. Jeder Andersartige, ja bereits eine abweichende Meinung, barg die aller größten Gefahren. Schnell war man zum Staatsfeind oder Spitzel abgestempelt. Die Nationalsozialisten hatten die perfekte, auf kollektiven Vorurteilen basierende Gesellschaft aufgebaut. Nach außen hatte man das Feindbild der anderen europäischen Nationen, und nach innen wurde die Juden als Gegner verkauft. Mit entsprechender Propaganda entwickelten sich daraus Gruppenzwänge. Interessant ist, daß das diktatorische System sehr schnell den Mechanismus der Prägung in frühester Kindheit ausnutzte. Entsprechende Jugendorganisationen legten, ähnlich wie in der DDR, den Grundstein zu Vorurteilen und darauf basierenden gruppendynamischen Zwängen, denen sich kaum einer widersetzen konnte.

Eine weitere Ausprägung des Gruppenvorurteils kann sich ergeben, wenn Individuen in Gruppen immer wieder mit denselben Vorurteilen konfrontiert werden. Dies kann soweit führen, daß einzelne das Vorurteil übernehmen und schließlich davon überzeugt sind, daß das Vorurteil tatsächlich richtig ist. Max Frisch beschreibt in seinem Werk "ANDORRA" die Figur Andri. Andri ist das uneheliche Kind eine Paares, das aus zwei verfeindeten andorranischen Dörfern stammt. Zum Schutz und zur Vertuschung wurde behauptet, Andri sei ein jüdisches Findelkind. Im Verlauf der Geschichte wird deutlich, wie Vorurteile wirken, wie Haß entsteht. Schließlich nimmt Andri das Vorurteil an und verinnerlicht sein "Judensein".

Max Frisch läßt Andri, das vermeintliche Judenkind, sagen:
"Seit ich höre, hat man mir gesagt, ich sei anders, und ich habe geachtet darauf, ob es so ist, wie sie sagen. Und es ist so, Hochwürden: Ich bin anders. [..] Hochwürden haben gesagt, ich muß das annehmen, und ich habe es angenommen. Jetzt ist es an Euch, Hochwürden, Euren Jud anzunehmen."

Die beiden Ansätze des individuellen Vorurteils und des Gruppenvorurteils liefern bereits eine sehr gute Vorstellung über das Wesen von Vorurteilen und deren Wurzeln. Betrachtet man den Einzelnen, so ist sein Handeln in jedem Fall durch individuelle Vorurteile aufgrund von Prägungen bestimmt. Zusätzlich ist er an vielen Stellen gemeinschaftlichen Vorurteilen ausgesetzt. Die Gemeinschaft kann eine Bürogemeinschaft sein, die einzelne Mitglieder mit Vorurteilen "auf Linie bringt". Stellt ein Gruppenmitglied geltende Vorurteile in Frage, so wird es u.U. rigoros ausgegrenzt. Vorstufen sind Mobbing bis hin zur totalen Isolation.

Gruppendynamische Effekte aufgrund von Vorurteilen können aber auch positive Folgen haben. Sind die Gruppenmitglieder "auf gleicher Wellenlänge", so kann ein Vorurteil Gemeinschaft fördern und die Gruppe zu Höchstleistungen antreiben.

Nachdem die Vorurteile in Herkunft und möglicher Wirkung für Einzelpersonen und Gruppen in aller Kürze dargestellt wurden, rücken nun die Erfahrungen in den Mittelpunkt der Betrachtung.


Wie wirken sich Erfahrungen aus ? Wann wirkt Erfahrung negativ, wann positiv?

Erfahrungen werden auf unterschiedliche Arten und Weisen gemacht. Erfahrungen resultieren aus Erlebnissen, markieren Erkenntnisse oder sind das Ergebnis bewußter Anstrengungen.

Man sagt: "Aus Fehlern lernt man". Dieser kurze Satz rückt den Kern, nämlich die Gewinnung von Erfahrung in den Mittelpunkt. Erfahrungen sammeln, Wissen, Methoden, Kochrezepte oder Verhaltensweisen ansammeln, ist ein bewußter oder unbewußter Prozeß, der uns unser ganzes Leben lang begleitet. Der menschlich Geist, sein Gehirn, ist wie die Festplatte eines Computers. Zu Beginn der Existenz ist der Speicher leer, um ein Leben lang mit Daten gefüllt zu werden. Erfahrungen helfen uns, richtige Entscheidungen zu treffen, uns richtig zu verhalten und sind an sich positiv. Machen wir allerdings schlechte Erfahrungen, so setzen sich diese genauso fest. Haben wir z.B. in einem Land während eines Urlaubs sehr positive Erlebnisse gehabt, wurden gastfreundlich aufgenommen, so übertragen wir diese Erfahrungen auf Personen aus diesem Land, die wir in Deutschland treffen. Nicht umsonst sind jene, die kaum andere Länder gesehen haben, diejenigen, die am Stammtisch mit Inbrunst über die Ausländer im Land herziehen.

Eine mögliche Folgerung lautet:

Erfahrungen verstärken oder schwächen Prägungen. Die aus Prägungen resultierenden Vorurteile werden entsprechend verstärkt oder, abhängig von persönlichen Erfahrungen, abgeschwächt oder ganz abgebaut.

In den vorigen Abschnitten wurde ein Aspekt der persönlichen Erfahrung aufgezeigt. Erfahrungen bilden den Ausgangspunkt für bewußte oder unbewußte Vorurteile. In der Kindheit sammeln wir eher unbewußt Erfahrungen. Als Erwachsene nehmen wir Erfahrungen oft als Fehler war. Erfahrungen können zusammen mit Prägungen zu Vorurteilen führen. Vorurteile schlummern im Verborgenen und treten meist unkontrolliert zum Vorschein.


3. Abschnitt: Herkunft von Vorurteilen

Abschließend soll auf einen grundsätzlichen menschlichen Aspekt der Bildung von Vorurteilen eingegangen werden.

Vorurteile und Erfahrungen basieren, wie bereits ausgeführt, auf Einflüssen der Umwelt auf das Individuum. Prägungen gesellschaftlicher Herkunft sind vorrangig für bewußte oder unterbewußte Vorurteile verantwortlich. Erfahrungen können Vorurteile verstärken oder abschwächen. Ergänzend sei nun die menschliche Wahrnehmung diskutiert.

Beobachtet man sich selbst einmal kritisch, so wird sehr schnell deutlich, daß Wahrnehmung stets behaftet mit Vorurteilen ist. Sehen wir z.B. einen vermeintlich andersartigen, etwa einen Schwarzen oder Behinderten, so verbinden wir damit automatisch Vorstellungen über dessen Denken, Leben und eventuelle Gefahren für uns. Hier setzt Friedrich Nietzsche an. In Nietzsches Theorie des Bewußtseins geht es um die Wahrnehmung und Wahrheit, um Denken und Urteilen. Demnach verlaufen die meisten Vorgänge unbewußt. Die Existenz des Menschen ist nicht auf echte Wahrnehmung ausgerichtet. Selbst im wachen Zustand ist der Mensch in ein "Bewußtseinszimmer eingeschlossen".

Den unverstellten Zugang zur Wirklichkeit gibt es nicht; wir befinden uns immer im Reich der Interpretation, die sich auf einen ungewußten, vielleicht unwißbaren, aber gefühlten Text" bezieht.

Gottfried Keller führt in seinem Roman "Kleider machen Leute" auf sehr anschauliche Art und Weise an dieselbe Themenstellung heran. Die Handlung der Novelle beschreibt den Kern eines jeden gesellschaftlichen Zusammenlebens: das Spannungsverhältnis aus Sein und Schein. Das Ausmaß des Scheins ist bestimmt durch das eigene Auftreten und durch die vorurteilshafte Wahrnehmung der anderen. Der gesellschaftliche Umgang ist gekennzeichnet durch Interpretationen der anderen und Intentionen des einzelnen. Beides kann von Fall zu Fall sehr stark voneinander abweichen. Hierbei ist Fremdeinschätzung und Wahrnehmung bestimmt durch die Vorerfahrungen und Einstellungen der Personen.

Eine Folgerung lautet:

Wahrnehmung ist persé vorurteilsbehaftet, da der Einzelne stets subjektiv wahrnimmt. Wahrgenommenes wird dabei an den eigenen Erfahrungen gespiegelt. Der Umkehrschluß besagt, daß Vorurteile unsere Wahrnehmung lenken .

Aus den bisherigen Folgerungen legen die Vermutung nahe, daß Vorurteile sehr tief Inneren des Menschen verwurzelt sind. Nun stellt sich folgende Frage:

Was ist die eigentliche Ursache der Vorurteile und worin sind sie begründet?

Diese letzte Frage wurde bereits zum Teil als Folge gesellschaftlicher Prägung beantwortet. Damit ist allerdings nur ein Teil des Phänomens Vorurteil, Wahrnehmung und gesellschaftlicher Umgang erklärbar.

Der eigentliche Grund liegt tiefer verborgen. Vorurteile, vorurteilbehaftetes Handeln und vorurteilhafte Wahrnehmung könnten als Instinkthandlung oder als "das Bärenfell unserer Vorfahren" betrachtet werden.

Ist es nicht so, daß besonders im gesellschaftlichen Kontakt die Wahrnehmung stets durch "Vorsichtiges Beschnuppern" gekennzeichnet ist? Meist nutzen wir bewußte oder unbewußte Vorurteile zur Taxierung, Einordnung des Gegenübers. Dieses "Schubladendenken" gibt uns Sicherheit. Im Grunde genommen sind Vorurteile, die auf diese Art und Weise verstanden werden, Ausdruck von Angst gegenüber anderen oder andersartigem. Diese natürliche Angst vor Fremdem beruht darauf, daß in Urzeiten ähnliche Instinkthandlungen lebensnotwendig waren. Dazu gehörten vor allem die Angst vor Fremden und die entsprechende Vorsicht.

Wenn man sich einmal selbst kritisch unter die Lupe nimmt, erkennt man diese Art von Instinkthandlungen. Schnell sind wir mit Vorurteilen bei der Hand. Dies um so mehr, wenn wir uns unwohl fühlen, unsicher sind oder Angst haben. Insofern sind heutige "moderne" Vorurteile Ausdruck des Bärenfells unter dem Anzug. Kommt eine gewisse Portion Streß oder Angst hinzu, so sind wir sehr anfällig für Vorurteilsdenken.


4. Abschnitt – Bezug der Begriffe zur Freimaurerei

In den ersten drei Abschnitten dieser Zeichnung habe ich versucht die Thematik anhand von Beschreibungen und Folgerungen Euch, meine lieben Brüder, zu erschließen. In diesem letzten Abschnitt geht es mir darum die Thematik im Lichte der FM zu betrachten.

Die FM nimmt sich zur Aufgabe, den "rauhen Stein" zu bearbeiten. Ziel der Arbeit ist die Gewinnung von Erkenntnissen, die schlußendlich zu einem gesünderen Geist führen. In anderen Worten könnte man sagen "der FM strebt danach in der Loge Erfahrungen zu machen, die sich im profanen Leben nicht ergeben".

Nun könnte man meinen, die Loge sei ein Debatierclub zur Erlangung von Erfahrungen. Hier tritt nun das Ziel der Logenarbeit zu Tage: Gemeinsam am Tempel der Humanität zu bauen.

Die Erörterung des Begriffes Humanität würde genug Material für einen weiteren Bauriß abgeben. Deswegen sei hier nur ein zentraler Begriff hervorgehoben: die Toleranz. Toleranz bedeutet im Grunde genommen "anderen ohne Vorurteile zu begegnen". Damit schließt sich der Kreis. Der FM bearbeitet seinen rauhen Stein, mit dem Ziel seine individuellen Vorurteile abzubauen, sich in Toleranz zu üben. Zieht man die vorigen Abschnitte mit in Betracht so folgt, daß die Arbeit am rauhen Stein ein fortlaufender Prozeß ist und wir somit fortwährend gefordert sind. Einzig unsere Kritikfähigkeit vor allem an uns selbst wird uns auf dem langen Weg begleiten.

So findet sich die Aufforderung zur Vermeidung von Vorurteilen im Ritualtext unseres Traditionsrituals zur Schließung der Loge. Dort antwortet der II. Aufseher auf die Frage "Wie sollen Freimaurer denken?":

"Ohne Vorurteil, das Senkblei in der Hand."

Um sich von Vorurteilen befreien zu können, muß der Einzelne zuerst einmal seine eigenen Vorurteile im Denken und in der Wahrnehmung erkennen. Dazu braucht es die Arbeit am rauhen Stein, die ihren Ausgangspunkt in der Anweisung nimmt:

"Erkenne Dich selbst!"

Arbeit am rauhen Stein bedeutet demnach, stets daran zu arbeiten, Vorurteile zu überwinden und sich stets zu prüfen, inwieweit das Denken und Handeln von Vorurteilen bestimmt ist. Je freier man von Vorurteilen ist, desto freier ist man, auf Andersartiges, Neues zuzugehen, kritisch Altes in Frage zu stellen, quer zu denken. Freiheit von Vorurteilen heißt Freiheit im Geist.

Die Freimaurerei schreibt sich Toleranz als oberstes Gebot auf die Fahnen. Dies ist außergewöhnlich, da der innere Halt und die Abgrenzung, wie sonst üblich, fehlen. Somit liegt der Erfolg der Bewegung am Erfolg jedes Einzelnen. Es existiert kein Gruppenzwang. Dies macht die Freimaurerei zu einer herausragenden Bewegung. Sie kann somit im Idealfall auf einzigartige Weise auf Vorurteile zur Gruppenbildung verzichten.

Für jeden Freimaurer hält die stetige Arbeit am rauhen Stein mit den vielen Anstrengungen Erkenntnisse und Erfolge bereit. Dabei sind wir nicht bewahrt davor, ein Teil der Entwicklungsgeschichte zu sein. Schlußendlich wird die Handlungsweise neben bewußten oder unbewußten Erfahrungen und Vorurteilen ganz wesentlich vom "Bärenfell" unter dem Anzug beeinflußt. Die Beherrschung der "Urinstinkte" ist uns leider bis zum heutigen Zeitpunkt noch nicht gelungen. Doch daran wollen wir arbeiten.

Den Bauriß möchte ich mit einem Gedicht von Erich Kästner schließen. Trotz der ernstgemeinten Bemühungen aller Generationen sich weiter zu entwickeln bleibt am Ende wenig haften im Verhalten des Einzelnen, von Gruppen oder sogar von Nationen. Erich Kästner resümierte die vermeintliche Entwicklung der Menschheit, auch als Fortschritt bezeichnet, mit dem ihm eigenen Witz in Form des folgenden Gedichtes.

Entwicklung der Menschheit

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
behaart und mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
Und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
bis zur dreißigsten Etage.

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohen,
in zentralbeheizten Räumen.
Da sitzen sie nun am Telephon.
Und es herrscht noch genau derselbe Ton
Wie seinerzeit auf den Bäumen.

Sie hören weit. Sie sehen fern.
Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.
Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.
Die Erde ist ein gebildeter Stern
Mit sehr viel Wasserspülung

Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr.
Sie jagen und züchten Mikroben.
Sie versehen die Natur mit allem Komfort.
Sie fliegen steil in den Himmel empor
Und bleiben zwei Wochen oben.
Was ihre Verdauung übrigläßt,
Das verarbeiten sie zu Watte.

Sie spalten Atom. Sie heilen Inzest.
Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,
daß Cäsar Plattfüße hatte.

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
Den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
Bei Licht betrachtet, sind sie im Grund
Noch immer die alten Affen.


In diesem Sinn sollten wir uns verstehen.
Wir sollten uns nicht zu ernst nehmen. Wir sollten uns stets kritisch prüfen und Toleranz üben.
Am Schluß ist zu hoffen, daß wir den richtigen Weg gehen und dabei die Ecken und Kanten unseres rauhen Steins ein klein wenig geglättet werden.