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Freimaurerei, Freimaurerlogen, Freimaurer



Erziehung ist Politur.
Sie verschönert von außen,
ändert das Material nicht.

Eleonore van der Straten-Sternberg



F.-L. B.

Bruder Neanderthaler

Das Jahr des Neanderthalers 2006 erinnert uns, daß 1856 mit dem Fund des Neanderthalers der erste Urmensch in das Licht der Wissenschaft rückte. Der Name Homo neanderthalensis wurde vom irischen Wissenschaftler William King 1863 auf einer Tagung geprägt, der sich dabei auf den Fundort Neandertal (zwischen Düsseldorf und Wuppertal) bezog. Der Erstfund wird heute auf ein Alter von 42.000 Jahren datiert. Der Neanderthaler lebte im Mittelpaläolithikum in der Zeit von ca. 130.000 v. Chr. bis mindestens 27.000 v. Chr., d. h. Homo neanderthalensis und Homo sapiens sind sich begegnet.

Wie uns heutige Rekonstruktionen zeigen, sah der Neanderthaler uns nur begrenzt ähnlich, doch das Schädelvolumen eines Neanderthaler-Skeletts aus der israelischen Amud-Grotte betrug bereits 1740 Kubikzentimeter. Es besteht zwar kein direkter Zusammenhang zwischen Hirnvolumen und Intelligenz, doch es stimmt nachdenklich, daß der Homo sapiens im Schnitt nur 1560 Kubikzentimeter vorzuweisen hat.

Verwandt sind wir zwar mit dem Neanderthaler nur begrenzt, denn die DNA des Homo neanderthalensis unterscheidet sich deutlich von der unseren. Aber unsere gemeinsamen Wurzeln weisen nach wissenschaftlicher Einschätzung auf eine Zeit vor 365.000 bis 853.000 Jahren zurück.

Es ist durchaus vorstellbar, daß während der Eiszeit zehntausend Jahre lang ein gnadenloser Verdrängungskrieg getobt hat, in dessen Verlauf die Neanderthaler ausgerottet worden sind. Damit würde ein ungutes Licht auf die Urgeschichte des Menschen fallen. Erinnerungen in der Bibel an den Brudermord des Kain (1. Mose 4, 8) könnten hier eine Wurzel haben. Als ein weiterer Hinweis auf die Verdrängung des Neanderthalers könnte die Geschichte von Esau, dessen Äußeres bei seiner Geburt als "rötlich, ganz und gar wie ein haariger Mantel" beschrieben wird, seinem Bruder Jakob und dem Verkauf des Erstgeburtsrechts eingeordnet werden (1. Mose 25, 25).

Doch an welcher Art rauhem Stein arbeiten wir heute, wenn wir als Freimaurer uns in der Selbstvervollkommnung ergehen? Wie weit sind wir in Bezug auf unser zu bearbeitendes Ausgangsmaterial von dem der Urzeiten der Menschheit entfernt?

Der US-Psychologe David Buss (Evolutionary psychology - Universität von Texas) in "DER SPIEGEL 35/2005" zu seinem Buch "The Murderer Next Door - Why the Mind is Designed to Kill" (The Penguin Press, New York 2005) über die gewalttätige Natur des Menschen, tötende Stiefväter und seine eigenen Mordphantasien befragt, kommt zu der Aufsehen erregenden Ansicht:

"Wir alle sind die Nachkommen einer langen Linie von Mördern und Totschlägern. Mord steckt in uns. Er fasziniert uns nicht nur in Krimis oder Romanen. Wir alle stellen, wenn auch oft unbewußt, Kosten-Nutzen-Rechnungen auf über die Frage, ob wir töten sollen oder nicht."

Er bezieht sich dabei auf eine Datenbasis, die er aus der Befragung von 5000 Menschen aus sechs Kulturen gewonnen hat. Dabei ergab sich, daß 91 Prozent der Männer und 84 Prozent der Frauen zumindest einmal Mordphantasien gehabt haben und folgert: "Das ist keine Überraschung, denn die Evolution hat uns so gemacht."

Auf die Frage "Ist Mord ein normaler Bestandteil menschlichen Verhaltens?" antwortet Buss:

"Manche Morde sind zweifellos pathologisch (...) Aber für die meisten Morde gilt das nicht. Ich habe eine Datenbank von 429729 FBI-Mordakten analysiert und sie auf Motive und Tatumstände untersucht. Ich sah mich darin bestätigt, daß Morde eine Folge von evolutionär entstandenen Veranlagungen sind."

Die sich daraus ergebende Schlußfolgerung, daß demnach jeder zum Mörder werden kann, unterstreicht Buss mit der Aussage:

"Die meisten Menschen würden töten, um sich selbst oder ein eigenes Kind zu retten - oder auch, unter bestimmten Umständen, aus geringerem Anlaß. Um es in einem Satz zu sagen: Menschen morden, weil Mord den Tätern einst in bestimmten Situationen einen Reproduktionsvorteil verschafft hat."

Die gängigen, heute modernen Erklärungen wie schwierige Kindheit, Mißbrauch, Gewalt in den Medien ordnet Buss allesamt als falsch ein:

"Schauen Sie sich die gewalttätigsten Kulturen auf unserem Planeten an, nämlich die traditionell lebenden Völker wie die Yanomami am Amazonas oder die angeblich so friedlichen IKung San in Botswana. Diese Leute haben keinen Zugang zu Medien. Ihre hohe Mordrate ist auch nicht erklärbar durch schwierige Kindheiten. Sie ist vielmehr Folge des unbarmherzigen Dranges, sich fortzupflanzen. Der evolutionäre Prozeß schert sich nicht um Gerechtigkeit oder das Wohl einer Art, sondern nur um das des Individuums und vor allem seiner Gene. Es gibt eine begrenzte Zahl von fortpflanzungsfähigen Frauen. Und in unserer Geschichte war das Töten eines Rivalen ein höchst effektives Mittel, einen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen."

Aus einem ganz anderen Blickwinkel und breiter angelegt, betrachtet der wissenschaftliche Schriftsteller Dr. rer. nat. Theo Löbsack in seinem Buch "Unterm Smoking das Bärenfell" (Umschau Verlag 1990) unser urzeitliches Problem, die unbewältigte Vergangenheit des Menschen, denn täglich müssen wir erleben, wie sehr wir noch den Verhaltensweisen unseren Urahnen verhaftet sind. Die Inhaltszusammenfassung auf dem Schutzumschlag seines Buches skizziert:

"Täglich erleben wir, daß vieles in unserem Verhalten an unsere stammesgeschichtliche Vergangenheit erinnert, daß "Wildheitsrelikte" unser Fühlen, unser Handeln und Gebaren mitbestimmen. Noch immer müssen wir mit diesem "Bärenfell unterm Smoking" leben - manchmal zu unserm Verdruß, oft auch zur Erheiterung. Fühlen Sie sich beim Essen in einem Restaurant auch manchmal beobachtet und blicken verstohlen nach rechts und links? Sitzen Sie lieber in einer Nische oder am Fenster als an einem Tisch "ohne Deckung" in der Mitte? Fragen Sie sich manchmal, warum ihr Kind "fremdelt"? (...) Er fragt nach Erlebens- und Verhaltensweisen, die an die Urzeit unseres Geschlechts, auch an das Verhalten unserer tierlichen Vorfahren, erinnern. Er zeigt, wie wir verstrickt sind in das Fühlen, das Gebaren unserer Urahnen, wie Wildheits- und Urzeitrelikte unser Leben auch heute noch bestimmen."

Theo Löbsack resümiert nach einer interessanten Betrachtung vieler Einzelheiten in seinem Schlußkapitel "Eine Art Motivation":

"Ist dem Homo sapiens mit seinen im Großhirn lokalisierten geistigen Fähigkeiten nicht eine Qualität zugewachsen, die jeden Vergleich mit seinen Vorgängern banal erscheinen lassen muß?

Andererseits fehlen dem Menschen beispielsweise jene instinktiven Hemmungsmechanismen, die das Tier am Töten seiner Artgenossen hindern. Wir Menschen müssen diese Hemmschwellen trotz unserer Vernunft, trotz Erziehung und Einsichtsfähigkeit erst noch durch Gesetze und Strafandrohungen errichten.

Vielleicht ist da jene merkwürdige Polarität unseres Gehirns mitverantwortlich, in dem sich die stammesgeschichtlich älteren Strukturen mit ihren Steuerzentren für Gefühle einem neueren, intellektuellen Bereich in der Großhirnrinde gegenüberstehen: Zwei Sphären in dem großen, verschlungenen Knäuel in unserem Kopf, die durchaus nicht immer, ja eigentlich nur selten harmonisch miteinander korrespondieren, sondern sich eher kontrovers verhalten. Lapidar gesagt: Gefühl und Vernunft liegen bei uns allzu oft im Clinch. Und dieser Umstand stellt womöglich sogar eine auf die Dauer tödliche Bedrohung für unser Geschlecht dar.

Will das "emotionale Gehirn" das "intellektuelle" kontrollieren, so mißlingt das ebenso oft wie der umgekehrte Versuch.

Das alles mag ein Zeichen mehr dafür sein, daß wir aus dem Tierreich kommen. An der "Tiernatur" des Menschen läßt sich also kaum zweifeln. Auch wenn wir uns grundlegend von den Tieren unterscheiden, so verbindet uns doch auch so viel mit ihnen, daß es legitim sein mag, Verhaltensverwandtschaften zu dieser unserer stammesgeschichtlichen Vergangenheit aufzeigen. ...

Wir sind zwar keine Musterknaben, aber immerhin Lebewesen mit ganz neuen Eigenschaften und Besonderheiten. Und doch können wir das "Bärenfell" nicht verleugnen, das uns umhüllt und nicht immer zum Schmuck gereicht, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht."

Auch Professor Buss kommt in o. a. Interview abschließend zu einer ähnlich bivalenten Einschätzung:

"Kulturelle und soziale Kräfte können die Kosten-Nutzen-Rechnung für einen Mord dramatisch beeinflussen, das ist klar. Unsere evolvierten Tötungsmechanismen funktionieren ja nicht wie ein unkontrollierbarer Reflex. Das ist auch der Grund dafür, daß wir in unserer modernen Welt dank der Gesetze, Richter und Polizei eine geringere Mordrate haben als die meisten Naturvölker. Gefängniszellen wirken abschreckend."

Mehr Mut macht uns Professor Svante Pääbo, Direktor der Abteilung Evolutionäre Genetik am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, in einem während des Berliner Wissenschaftssommers 2001 gegebenen Interviews:

"Es ist offenkundig, daß der Mensch das Potenzial zur Gewalt hat. Falsch ist jedoch die Schlußfolgerung, Gewalt wäre bei Menschen quasi etwas "Natürliches". Es gibt kein menschliches Verhalten, das "natürlich" ist - im Sinne von unvermeidbar. Uns zeichnet aus, daß wir unser Verhalten sehr bewußt steuern können. Vor allem wird unser Verhalten beeinflußt durch unsere Kultur, unsere sozialen Systeme und unsere Ethik. Man wird zum Hasser oder Fanatiker gemacht, wenn man in eine Gesellschaft voller Haß hinein geboren wird. Wenn Leute meinen, Gewalt sei natürlich, dann meinen sie im Grunde genommen nur: ‚Ich mag dieses Verhalten'."

Was können wir nun für unsere freimaurerische Gemeinschaft und unsere "Arbeit am Rauhen Stein" aus dem Vernommenen lernen?

Wir können davon ausgehen, daß alles, was in der profanen menschlichen Gemeinschaft vorkommt, auch in unserer Bruderschaft vorkommen kann, vielleicht nur nicht so häufig. Es darf uns auch nicht verwundern, wenn z. B. nach 50jähriger Logenzugehörigkeit wir plötzlich wieder vor dem rauhen, unbearbeiteten Urgestein des alten Bruders stehen.

Wir alle sind von den vererbten Verhaltensmustern unserer Urahnen mehr oder weniger geprägt. Uns dies bewußt zu machen, aber ebenso aufzuzeigen, daß darin für den Menschen auch die Chance liegt, sich mehr und mehr zu einem wirklich humanen Wesen zu entwickeln, sollte das Ziel unserer freimaurerischen Arbeit sein.

Die Metapher von der freimaurerischen Arbeit am Rauhen Stein mittels Spitzhammer, um unsere Selbstvervollkommnung voran zu treiben, scheint den Kern des Problems nicht zu treffen, denn dieser versagt in der Praxis erkennbar als Werkzeug bei der Bearbeitung unseres Urgesteins. Vielmehr müssen wir zur Maurerkelle greifen, um uns mühsam mit einem nur wenig haftenden "Zement" aus Kultur und Menschenliebe einen gemeinschaftsfähigen Verputz für unseren Rauhen Stein zu erarbeiten. Leider sind unsere verputzten Fassaden und Oberflächen im täglichen Leben der Erosion als auch wechselnden Anforderungen ausgesetzt, so daß wir sie immer wieder erneut bearbeiten müssen, um ihre Struktur zu erhalten bzw. zu ergänzen:

Der Weg ist also das Ziel.



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Anmerkungen: