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Freimaurerei, Freimaurerlogen, Freimaurer






Vergleichendes Handbuch der Symbolik der Freimaurerei
mit besonderer Rücksicht auf die Mythologieen und Mysterien des Alterthums
von Dr. Jos. Schauberg, Zürich 1861

B a n d I. - Kapitel XXIII.



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Das Symbol der Fessel.

Bekanntlich waren nach dem ältesten englischen Aufnahmeritus dem Maurerlehrlinge, weil er noch in der Finsterniss wandelte und das Licht suchte, nicht allein die Augen verbunden, sondern er trug auch um den Hals eine Fessel oder einen Strick. Nach dem englischen Lehrlingsfragstücke, welches Krause als das älteste in seinen Kunsturkunden bezeichnete, obwohl ihm nicht unbekannt war, dass auch noch ältere, jedoch nicht mehr gebräuchliche Redactionen des Lehrlingsfragestückes vorhanden seien, antwortete auf die achte Frage des vorsitzenden Meisters: "Wie wurdet ihr vorbereitet, Bruder-" der Aufzunehmende:

"Ich war weder nackend, noch, bekleidet, weder barfuss, noch beschuhet; alles Metalls beraubt; mit verbundenen Augen; mit einem Strick um den Nacken, woran ich zur Thüre der Loge geleitet wurde, in einer haltend-beweglichen Stellung; an der Hand eines Freundes, den ich in der Folge für einen Bruder erkannte."

Krause, Kunsturkunden, I. 1, S. 139, Anm. 10, bemerkt zu dieser Antwort, dass ihm ein englischer Bruder (Houseal) mitgetheilt habe, es sei dieses Führen an einem Stricke um den Hals noch jetzt in vielen Logen alten Systems gebräuchlich; dieser Strick sei kaum Fingers dick und gegen sechs Ellen lang. Nach einer Correspondenz in Nr. 26 der Bauhütte von 1860 wurde noch im Jahr 1859 der persische Prinz Mirza Ali Ho Gla Kan in der (engl.) Oriental-Lodge bei seiner Aufnahme an einem Stricke in die Loge eingeführt. Krause fügt weiter noch bei: "Wahrscheinlich ist dieses Führen an einem Strick oder einer Schnur, sowie das Tragen desselben ein uralter ostländischer (orientalischer) Gebrauch, der sich schon bei den Brahminen in Indien und bei den Soofi in Persien findet, wahrscheinlich auch bei den Essenern eingeführt war, und




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vielleicht eben daher auch bei Johannes dem Täufer angetroffen wird." - Eben damit steht auch der Gebrauch in Verbindung, wornach der (gewesene) Meister der Loge eine aus 60 Abtheilungen (als Symbol der 60 Mitglieder, aus welchen eine Loge zweckmässig bestehen soll) bestehende Schnur am Halse trägt. 1) In den Kunsturkunden II. 1, S. 470, Anm. c., theilt sodann Krause mit, dass die Tuslemah, d. h. die Gehorsamen, ein Grad der Soofi, so benannt wegen ihres Gehorsams gegen ihre Lehrer, von ihrem Lehrer, wenn sie treu erfunden worden sind, eine kleine Kette, Schnur oder Strick, genannt Restah Tusleem, d. h. Schnur des Gehorsams, erhalten. Die Soofisecten oder Grade Ursulleah und Kullundereah sollen einen ähnlichen Gebrauch haben. Der älteste Ursprung dieses Gebrauches ist nach Krause wohl in der dreifachen Schnur zu finden, welche die Brahmanen, - in der Bogensehne, welche die Krieger, und in dem dreifachen Faden, welchen die Vaisya (die dritte Kaste) erhalten, wenn sie nach vollendeter Kindheit ihre Lehrjahre antreten; der Gebrauch finde sich auch bei den christlichen Einsiedlern und Mönchen, besonders auch bei den Johannitern. Dem Johanniterritter wurde bei seiner Aufnahme der Strick des Mantels mit den Worten um den Hals gebunden: "Nimm hin das Joch des Herrn, weil es leicht und süss ist, unter diesem wirst du Ruhe für deine Seele finden." 2) Auch bei dem Jesuitenorden ist das Symbol noch jetzt gebräuchlich und einige Freimaurer, wie namentlich noch Br. Findel in Nro. 30 der Bauhütte für 1860, haben die gewiss völlig unbegründete Vermuthung ausgesprochen, dass die Jesuiten das Symbol in die Freimaurerei eingeschwärzt haben.

Fallou, die Mysterien der Freimaurer, zweite Auflage, Leipzig 1859, S. 424, bemerkt, der Gebrauch, den Kandidaten an einem Stricke in die Loge einzuführen, sei das Sinnbild einer unauflöslichen Verbindung, das in Deutschland schon vor den Zeiten Karls des Grossen bestanden




1) Krause, Kunsturkunden, I. 1. S. 264, Anm. und II. 1. S. 108, Anm. b.
2) Krause, a. a. O, II. 2. S. 63.



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habe und woher das Wort Verstrickung 1) stamme; in den englischen Steinmetzhütten habe sich dieser uranfängliche und älteste Gebrauch erhalten, während er sich in den deutschen Hütten wahrscheinlich schon vor der Reformation verloren. Ueber den Gebrauch und die Bedeutung des Strickes, welcher in den Logen des neu-englischen Systems nicht mehr angewandt wird 2) und der in verschiedenen Umgestaltungen gegenwärtig noch in den höhern Graden der schottischen Maurerei vorkommt, ist sodann ferner zu vergleichen, was unter dem Worte "Strick" in Lenning's Encyklopädie sich darüber zusammengestellt findet. Das bei Lenning Angeführte darf deshalb hier mit Stillschweigen übergangen werden, weil es durchaus keinen geschichtlichen Werth hat, nichts Altes und aus den frühern Zeiten Ueberliefertes enthält, sondern unzweifelhaft ein Erzeugniss des vorigen Jahrhunderts mit zum Theil wahrhaft widersinnigen symbolischen Deutungen ist, da man den wahren Sinn des maurerischen symbolischen Strickes nicht erkannt, ja kaum geahnt hatte. Um zu zeigen, zu welchen symbolischen Missgriffen man durch die Unkenntniss in dieser Beziehung verleitet worden sei, mag aus dem ungedruckten maurerischen Nachlasse des im Jahr 1762 zu Malans in Graubünden gebornen und dort im Jahre 1834 verstorbenen Dichters Salis hervorgehoben werden, dass zu seiner Zeit, d. h. zwischen 1780 - 1790, in Frankreich in dem Grade der Elûs der Strick (la corde) also erklärt wurde: "La corde est le symbole, que les pierres ne peuvent parvenir au haut de l'edifice que par son secours," was allerdings eine sehr ausgewählte Symbolik ist.

Aus den eleusinischen Geheimnissen darf wohl als hierher gehörend angeführt werden, dass die Mysten sich von den Uneingeweihten nicht blos durch die Bekränzung mit Myrthen, sondern auch durch Fäden, vielleicht von Krokusfarbe, unterschieden, die sie um den rechten Arm und den linken Fuss gebunden trugen. Schömann, griech. Alterthümer, II. S. 347, glaubt, dass Cultusbeamte aus dem Geschlechte




1) Nach Schmeller, bayerisches Wörterbuch, III. S. 682, ist Verstrickung = Verpflichtung, Bündniss, Arrest, Gefängniss; verstricken = verbinden, verpflichten.
2)Krause, a. a. O., I. 2. S. 290.



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der Krokoniden das Geschäft gehabt haben, den Eingeweihten die Fäden anzulegen , wofür sie wohl eine Gebühr bezogen haben; ebenso stehe wohl der mythische Heros Krokon, der ein Eidam des Keleos genannt wird, mit den Fäden oder der Mysten in Verbindung. Diese Fäden der Mysten waren aber kein äusserliches Unterscheidungszeichen, sondern ein höheres Symbol, ein Theil der symbolischen Kleidung der Mysten. Preller, römische Mythol., S. 226, Anm. 3, nach welchem die Mysten in den Eleusinien den Faden um die rechte Hand und den rechten Fuss, vermuthlich über dem Knöchel trugen, vermuthete darin mit allem Rechte den symbolischen Ausdruck einer Heiligung oder eines Gelübdes. Von dem zu Rom durch Numa eingerichteten Cultus der Fides publica oder Fides populi romani hat Livius 1, 21 die Nachricht bewahrt, dass die von Numa eingesetzten Flamines des Jupiter, Mars und Quirinus, zum Gottesdienste in einem Wagen mit gewölbtem Schirmdache haben fahren und, ihre rechte Hand bis an die Finger verhüllt, der Fides das Opfer darbringen müssen, zum Zeichen, dass die Fides nicht sorgfältig genug behütet und beschirmt werden könne und dass ihr Sitz, die rechte Hand, rein und heilig gehalten werden müsse (Ad id sacrarium flamines bigis curru arcuato vehi jussit, manuque ad digitos usque involuta rem divinam facere, significantes fidem tutandam sedemque ejus etiam in dextris sacratam esse). Preller, a. a. O., bemerkt: "Denn immer wurde die Hand und der Handschlag, namentlich der mit der Rechten, als das Symbol eines Versprechens und einer Verbindlichkeit auf Treu und Glauben angesehen und die Umwickelung eines Gliedes mit geweihten Binden ist dem Alterthum auch sonst als Sinnbild der Heiligung dieses Glieds bekannt." 1) - Die Fäden der Eleusinien waren wohl , symbolische Fesseln, von der rechten Hand zum rechten oder zum linken Fusse gehend.

In der indischen Mythologie trägt Varunas, der Gott des himmlischen Oceans, der griech. , einen Strick




1) Vergl. über die heiligen Binden und ihre Anwendung zur Weihe Bötticher, Baumcultus der Hellenen, S. 43 und 418.



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zum Symbole, dass er die Erde, das All umschlinge und umgürte. Bei den Aegyptern ist das Symbol des Amun-Kneph, das Agathodämon der Griechen, der geistigen Urgottheit, welche nach ägyptischer Vorstellung das Weltall, die Weltkugel von aussen ringsum einschliessend und gleichsam in ihrem Schoosse tragend gedacht wurde, - eine Schlange, welche sich um den Weltkreis schlingt. 1) Ein anderes ägyptisches Symbol des das Weltall umfassenden Amun-Kneph war nach Porphyrius ein Kreis mit einem schiefen oder aufrecht stehenden Kreuze darin, das letztere das Weltall nach seinen vier Seiten oder nach den vier Himmelsgegenden andeutend. 2) Verwandt hiermit ist der Ring der Ewigkeit, welchen der babylonische Belitan auf babylonischen Cylindern 3) und ebenso der indische Brahma 4) in der Hand trägt. Ferner tragen Brahma und überhaupt die indischen Götter die Perlenschnur der Welten, was Benfey bei Ersch, a. a. O., einen Rosenkranz unrichtig nennt. Der Ring der Ewigkeit verwandelt sich auch in die sich ringelnde oder vielmehr schlingende Schlange, welche mit dem Kopfe den Schwanz erfasst.

Um nun die eigentliche Bedeutung und den tiefern Sinn des Symbols der Fesseln aufzufinden, müssen zuförderst zwei Arten der Fesseln scharf auseinander gehalten und völlig getrennt werden, während Krause diese beiden Arten der Fesseln bunt durcheinander geworfen oder auf eine ganz unzulässige Weise sich gleichgestellt hat, weshalb er auch ausser Stande gewesen ist, die Sache selbst aufzuhellen. Die Fesseln werden bei der Aufnahme in die Mysterien, in die religiösen Verbindungen auf eine doppelte und wesentlich entgegengesetzte Art angewandt. Entweder nämlich wird der Aufzunehmende noch als gebunden und gefesselt betrachtet und soll gerade durch seine Aufnahme befreiet und entfesselt werden, so dass er bei der Einführung zur Aufnahme noch die Fesseln trägt, aber im Verlaufe der Aufnahme sie abstreift und ablegt; oder die Aufnahme in das Mysterium, in den




1) Röth, Geschichte uns. ab. Phil., I. S. 196.
2) Movers, die Phönicier, I. S. 504.
3) Münter, Religion der Babylonier, Taf. I, Fig. 3.
4) Ersch und Gruber, Encykl. II. Bd. XVII. S. 176 a.



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Religionsbund gilt als eine Fesselung, weshalb dem Aufzunehmenden zum Zeichen seiner Aufnahme und seiner Angehörigkeit erst die Fessel angelegt wird, um dieselbe alsdann bis zu seinem Tode zu tragen. Dort wird eine Fessel und ein Band gebrochen und der Aufgenommene ist ein Befreiter, ein Freier, hier wird die Fessel und das Band absichtlich angelegt und der Aufgenommene ist ein Gebundener, ein Gehorsamer, ein Ergebener, ein Sklave. Die Fesseln der ersten Art erscheinen unerträglich und verwerflich, wogegen die Fesseln der zweiten Art gesucht und selbst als eine leichte und süsse Last, als etwas Heiliges und Heiligendes freiwillig übernommen werden. Einzig bei den Maurern war und ist in die Aufnahme-Gebräuche eine Entfesselung, eine Freimachung eingeflochten, wogegen bei den Parsen, bei den Indern, bei den Soofi, bei den Johanniterrittern, bei den Tempelherren u. s. w. eine Fesselung, eine Unterwerfung stattfand oder stattfindet und auf sie mehr oder weniger anzuwenden ist, was Jac. Grimm in den deutschen Rechtsalterthümern S. 184 anführt, dass einen Strick um den Hals sowohl Solche trugen, welche sich auf Leben und Tod ergeben hatten, als auch an gewissen Orten die Freibauern zum Zeichen geringer Knechtschaft und Hörigkeit. Gladisch, das Mysterium der ägyptischen Pyramiden und Obelisken, Halle 1846, S. 14 nennt den "Kotisch" der Perser den Streitgürtel als das Symbol, dass der damit Umgürtete werkthätig theilnehme an dem grossen Weltkampfe zwischen Licht und Finsterniss, zwischen dem Guten und dem Bösen und dass er als ein Mit- und Lichtstreiter auf der Seite des Ormuzd stehen wolle. Allein der heilige Gürtel oder die heilige Schnur der Perser und der Inder ist kein Streitgürtel in diesem Sinne, sondern ein Band, wodurch der Umgürtete in den religiösen Verein gleichsam eiregebunden und eingeflochten wird, - ein Ring oder eine Kette, welcher dessen Träger als ein neues Ring- oder Kettenglied in den grossen und allgemeinen Ring des Ganzen einfügt. Der Kosti erinnert an den Ring, welchen so viele mythologische Personen über dem rechten Knöchel tragen und den Gaedechens, Glaukos S. 68, mit Recht als das Symbol der Fesselung ansieht. Sehr schön und




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mit sich selbst innerlich wie äusserlich Übereinstimmend ist es bei dem Freimaurerbunde, dass er, wie er dem Aufzunehmenden die verhüllende Binde der Finsterniss symbolisch löset und ihm das Licht ertheilt, ebenso die von dem Aufzunehmenden bisher getragene Fessel sprengt und ihm die Freiheit verleiht. Die drei Säulen, welche die Logen oder den Tempel der Maurer tragen, wie wirklich einstens die alten Druidenaltäre von drei symbolischen Steinpfeilern getragen zu werden pflegten, 1) dürfen daher nicht allein auf die Weisheit, Stärke und Schönheit bezogen werden, sondern bedeuten noch weit mehr und zugleich das Licht, die Freiheit und die Liebe. Was aber die Fessel, welche der Maurer verschmäht und zerbricht, ausdrücke, können wir natürlich nicht bei den Parsen, den Brahmanen, den Soofi, den Johanniterrittern, den Tempelherren u. s. f. erfahren, welche die Fesseln lieben und knüpfen, sondern darüber muss anderwärts Aufschluss gesucht werden.

In dem ältesten , d. i. in dem sogenannten ältesten, in der That aber neueren englischen Lehrlingsfragestücke ist es nicht ohne Bedeutung, dass der Aufzunehmende erzählt, er sei mit verbundenen Augen und gefesselt zur Aufnahme geführt werden, welche Nebeneinanderstellung und Gleichstellung der Binde und der Fessel uns zwingt, dem Symbole der Fessel einen mit dem Symbole der Binde verwandten und harmonirenden Sinn zu ertheilen und beizulegen. Der Maurerlehrling wandert vor seiner Aufnahme in der Finsterniss, und weil er gelobt, beharrlich das Licht zu suchen, fällt die Binde und erhält er die Möglichkeit, das Licht zu finden; wie die Finsterniss das Auge des gewöhnlichen Menschen umhüllt, ebenso fesselt sein Herz das Laster, das Böse und die Leidenschaft, und auch diese Fessel wird gebrochen und fällt, wenn der Lehrling, wie auch der Meister soll und will, den drei Lichtern der Bibel, des Winkelmasses und des Zirkels folget, d. h. Gott, die Tugend und die Menschen liebt, - das Gute, Wahre und Schöne übt, - rein denkt, redet und handelt.




1) Krause, a. a. O., II. 1. S. 472.



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Die Fessel ist im Grunde nicht von der Binde verschieden, denn auch die Binde ist eine Fessel, - was bindet, fesselt, und umgekehrt; der Sehende, der im Lichte Wandelnde, der wahre Meister ist ebenso auch ein von dem Laster und der Leidenschaft Befreiter, ein Tugendhafter und Reiner. Ja noch mehr, nur die Tugend, das Gute und die Reinheit leuchten und sind mithin der Weg, das Mittel und das Mass des Lichtes, sind das Licht selbst. Diese Bedeutung der Fessel und der Entfesselung hat unter allen mir aus Büchern oder auch aus eigener Anschauung bekannten maurerischen Systemen einzig das rectificirte System der schottischen Maurerei klar und bestimmt erfasst, da nach dessen Ritual dem zum schottischen Meister zu Befördernden vor der Eidesabnahme, vor dem Tugendgelübde die bis dahin von ihm getragenen Fesseln, als das Sinnbild der Sklaverei, der Leidenschaften und der Laster abgenommen werden, d. h. der schottische Meister soll und will sich diese Fesseln selbst abnehmen, indem er aus eigenem innern oder freien Antriebe den Leidenschaften und dem Laster entsaget. Die rectificirte schottische Maurerei hat durch diese Deutung des Symbols der Fessel, bewusst oder unbewusst, sich auf den wahrhaft geschichtlichen, auf den uralten symbolischen Standpunkt gestellt.

Der Strick ist ursprünglich, und zwar allem Vermuthen nach ägyptisch, nur das Symbol jener Schlange des Bösen, welche nach den Schriften des alten Bundes, und in einer merkwürdigen Uebereinstimmung mit diesen auch nach den Zendschriften, die Urmenschen, Adam und Eva, Meschia und Meschiane verlockte, die Frucht des verbotenen Baumes zu kosten, wodurch die Menschheit den Himmel, das Paradies verlor und der Sünde, dem Schmerze und der Sterblichkeit verfiel. Die Bestimmung der gefallenen Menschheit ist, von ihrem Falle sich wieder zu erheben, die Schlange des Bösen zu überwinden und ihr den Kopf zu zertreten, und diese Bestimmung hatten wesentlich auch die alten Mysterien sich gesetzt; sie wollten den die Schlange besiegenden Menschen aus der irdischen Finsterniss in das ewige Licht, in den Himmel, zu Gott zurückführen. Daher musste in die Gebräuche der




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Aufnahme in die Mysterien die Besiegung und Vernichtung der Schlange eingefügt und der Aufzunehmende als Schlangenbekämpfer, Schlangentödter und Schlangenbesieger dargestellt werden, wobei man sich sinnreich des Strickes nach seiner bindenden Natur und nach seiner sich schlängelnden Gestalt als Symbols der Schlange bediente. Nunmehr verstehen wir die Nachricht des Plutarch, de Iside cap. 19, dass bei den ägyptischen Mysterienweihen zur Erinnerung daran, dass Horus (der griechische Apollo und Herakles) die typhonische Schlange, den Typhon (den parsischen Ahriman und jüdischen Satan) überwunden und getödtet hatte, ein Strick als Symbol der Schlange hingeworfen und zerhauen worden sei. Es ist nicht blos möglich, sondern sehr wahrscheinlich, dass der ägyptische Typhon und der parsische Ahriman, mit den in der indischen und griechischen, nordischen und deutschen Mythologie und anderwärts sich daran anschliessenden ähnlichen Schlangendrachen und Basilisken, ursprünglich den sich schlängelnden und rollenden Blitz, die Gewitterschlange, den Gewitterdrachen und Gewitterbasilisken bezeichneten, welche das siegreiche Himmels- und Sonnenlicht (Horus, Apollo, Herakles, Perseus, Ormuzd und Mithra, Indra, Odhin, Thôrr u. s. w.) bekämpft und besiegt, wie neuerlich in einer im Ganzen vortrefflichen Schrift von Schwartz, der Ursprung der Mythologie, besonders S. 24 u. 45, ausgeführt worden ist. Der in den ägyptischen Mysterien erscheinende Strick wäre also ursprünglich das Symbol des Blitzes gewesen, wofür Schwartz noch beibringt, dass in der amerikanischen Sage von dem grossen Geiste die Schlangen aus Stricken geschaffen werden. Indessen die blosse Naturbedeutung, welche als eine ausschliessliche und auch nur überwiegende wohl niemals vorhanden, sondern stets auch mit ethischen und geistigen Vorstellungen verbunden und gemischt war, tritt im Verlaufe der mythologischen Entwicklung stets mehr in den Hintergrund und der ägyptische Typhon und Horus, der parsische Ahriman und Ormuzd u. s. w. wurden vorherrschend ethisch und geistig aufgefasst, wie dieses ganz besonders auch in dem so bedeutungsvollen griechischen Apollo-Cultus der Fall war. Die ethische und geistige, die sittliche Auffassung der ursprünglichen Natur-




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symbole, Naturgötter und Naturdämonen fand aber die stärkste Pflege und Stütze in den Mysterienanstalten und deshalb muss das Mysteriensymbol des Strickes und der Schlange auch rein ethisch, geistig und sittlich ausgelegt und erklärt werden. Der Strick oder die Schlange, welche der Geweihte der Isis am Halse trug und der Maurer noch trägt, ist die Schlange der Leidenschaften, die er im eigenen Busen trägt und deren umschlingenden Banden er sich nur durch das Licht, durch die Reinheit in Gedanken, Worten und Werken zu entreissen vermag; die Finsterniss muss durch das Licht, das Böse durch das Gute, die Selbstsucht durch die Gottesfurcht überwunden werden. Da, so lang der Mensch hienieden lebt und kämpft, die Schlange des Bösen und der Leidenschaften ihm auf dem Fusse folgt, hat auch das uralte ägyptische Symbol von der Bekämpfung und Besiegung der Schlange seine tiefe und stets praktische Bedeutung und wohl der Gegenwart, wenn sie in dem Symbole den Geist erhält und wiederfindet, welchen längst untergegangene Völker hineingelegt hatten. Die Gegenwart ist nur dann die würdige Nachfolgerin der Vergangenheit, wenn sie deren Lehren, versteht und benützt. Dass aber, wenn auch zertrümmert und verkümmert und fast vergraben unter den hohlen Phrasen und Formeln des 18. Jahrhunderts, sich bis auf diesen Tag in der Maurerei das uralte Mysteriensymbol der Schlange und des Strickes forterhalten hat, beweiset schon für sich allein, dass die Maurerei der grosse Geist des Alterthums, besonders der Aegypter und der Griechen, durchwehe, - dass die Maurerei auf dem festen Grunde der Mysterien ruhe und mit ihnen unsichtbar zusammenhänge, dass die Maurerei ein Mysterium selbst jetzt noch sei, weil so viele ihrer eigenen Jünger sie, ihre Symbole, Gebräuche und Geschichte nicht einmal verstehen.

Liebe Freunde! Es gab schön're Zeiten,
Als die unsern - das ist nicht zu streiten!
Und ein edler Volk hat einst gelebt.
Könnte die Geschichte davon schweigen,
Tausend Steine würden redend zeugen,
Die man aus dem Schoss der Erde gräbt.




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Und ein solcher aus dem Schosse der Erde gegrabener redender Stein ist auch unser Symbol der Schlange oder des Strickes. Wird vor dem lebendigen Worte des Todten das todte Wort der Lebenden verstummen? Der ausgegrabene Stein, ursprünglich der Blitz, ruft donnernd und posaunend den Lebenden zu:

Das Licht, welches mit Christus in die Welt gekommen, - das göttliche Wort, welches in der Bibel niedergelegt ist, - das sittlich Gute, die Tugend und die Wahrheit ist der alleinige Ueberwinder der Schlange des Bösen, der Erretter und Erlöser der Menschheit . Die zehnte Verkörperung, Irdischwerdung oder Incarnation Wischnu's, welche die Inder am Ende dieser Weltordnung, der Periode der Sünde (Kalijugam) erst noch erwarten, und in der Wischnu in der Gestalt eines ungeheuren weissen Pferdes mit einer ungeheuren Axt, 1) d. h. die höchste Tugend und Reinheit zur Vernichtung der höchsten Sünde erscheinen soll, hat der Christ und der gläubige Mensch und Maurer nicht mehr zu erwarten, nachdem Christus geboren worden ist und uns in seiner Lehre die ungeheure Axt zur Tödtung des Sünders und der Sünde überbracht hat. Die Menschenschöpfung ist die zehnte Incarnation Wischnu's 2) und in der Menschwerdung Christi oder in dem göttlichen Funken und Strahle der Seele, dem weissen Pferde des Wischnu und dem wahren und alleinigen Sohne Gottes, hat der Mensch die Axt empfangen, um die Sünde, um den Typhon zu erschlagen und die Hölle oder den Satan zu besiegen. Die Waffe ist verliehen, doch deren Führer und Sieger fehlet oft. Jedenfalls aber und wenigstens ist in der Weltgeschichte ein Fortgang, ein Forttragen, und die Juden und die Christen sind nur die treuen Schüler der




1) Ersch und Gruber, Encyklopädie, Sect. II. Bd. XVII. S. 178 b.
2) Vergl. die Abbildung der zehnten Incarnation Wischnu's bei Vollmer, vollständiges Wörterbuch der Mythologie, Taf. CXXV. Auch die übrigen neun Incarnationen Wischnu's theilt Vollmer bildlich mit. Ebenso sind bei Wollheim, Mythologie des alten Indien, S. 35 ff. diese Incarnationen theilweise abgebildet.



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lehrenden Baktrer und Inder, Phönicier und Aegypter; die Gegenwart wohnt in dem Lichte der Vergangenheit, um das Licht der Zukunft zu werden.

In dem letzten und höchsten Sinne ist die Fessel, welche die himmlische und göttliche Seele trägt, ihr irdischer Körper und ihr irdisches Leben, indem die Erde zur Sinnlichkeit herabzieht und den Himmels- und Lichtesflug des Geistes, seine Rückkehr zu Gott hemmt; die Fessel des Irdischen, Sinnlichen und Sterblichen muss daher gelöset und zerbrochen werden, damit der göttliche, reine und unsterbliche Geist wieder frei werden und nach seiner himmlischen Heimath zurückziehen könne. Die Geburt des Menschen ist daher eine Fesselung der Seele durch das Irdische und in demselben, und sein Tod ist die Wiederentfesselung, die Erlösung und Befreiung daraus. Hephästos, das bildende materielle Feuer und die belebende Wärme der Erdgeschöpfe und Erdgestalten, besonders auch der Pandora,1) der Mutter des irdischen und sinnlichen Menschengeschlechtes, ist den Griechen der wahre Schmied der Fesseln für Götter und Menschen, und die Fessel der von ihm geschmiedeten Fesseln ist die Sinnlichkeit, das Irdische, das Leibliche, der Mensch, das Weib schlechthin. In dieser unsichtbaren Fessel hält Hephästos seine Mutter Hera, die Erdgöttin, und die ihm ungetreue, mit Ares buhlende Gattin Aphrodite d. i. das blühende Erd- und Naturleben gefangen. 2) Es kann nicht überraschen, wenn Schwartz, Ursprung der Mythologie, S. 152, auch in den Fesseln der Aphrodite, wie in dem Faden der Ariadne, den Fesseln des Wolfes Fenrir , in dem Haare der Sif u. s. w., überall nur den Blitz, den Blitzesfaden und die Blitzesfessel und die goldenen Blitzesstrahlen erblickt. Hera, Aphrodite und Ares sind im Grunde ihre eigene Fessel, sind der fesselschmiedende Hephästos selbst, insofern sie im irdischen Leben befangen sind. Die Fessel




1) Der Pandora verwandt ist die indische Tilottama, worüber Furtwängler, a. a. O., S. 353 ff., berichtet. Vergl. über die Pandora auch Buttmann im Mythologus, I. S. 48 ff.
2) Vergl. Furtwängler, Idee des Todes, S. 346 ff., vergl. mit S. 394 ff. und S. 432 ff., beziehungsweise Taf. I. Fig. 8.



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ist zugleich der täuschende Spiegel, die Erscheinungswelt, die Aphrodite Tanoris (die schaumgeborne), die Maja, der blühende Mai, 1) das Erdenleben, welche die Seele aus dem Himmel zur Erde verlockt und den Getäuschten den Tod bringt. In diesen Spiegel blickend, d. h. dem irdischen Sein hingegeben, wird Dionysos-Zagreus von den Titanen, von dem Erdenleben getödtet. 2) Von der Fessel und von dem Spiegel, von dem irdischen Tode und der irdischen Täuschung sollen und wollen die heiligen Weihen befreien, indem sie die Fessel abzuwerfen und den Spiegel zu verachten und nur das Licht zu erstreben lehren; durch die eleusinischen Weihen und das göttliche Licht gestärkt und ermuthigt überwindet Herakles den fürchterlichen Kerberos, den Tod selbst. 3) Auf der berühmten Vase von Canosa, welche sich jetzt zu München befindet und wovon Furtwängler, a. a. O., Taf. V, eine Abbildung gegeben hat 4) und worüber er S. 403 ff. sehr ausführlich und gehaltreich handelt, tragen im Elysium die Herakliden, die Söhne des Herakles um den Leib breite Einweihungsbinden, einer derselben zugleich um das untere linke Bein einen dreifachen Ring, und ebenso schmücken ihr Haupt Einweihungsbinden mit Epheulaub darüber - zum Symbole, dass ihnen nun die Verheissungen der Eleusinien erfüllt und die dort versprochene Glückseligkeit gewährt seien. Den Herakliden zur Seite ergiesst sich aus einem Löwenkopfe das Wasser des ewigen Lebens, womit einer der Söhne eine Schaale gefüllt hat, die er der Mutter Megara zum Trinken darreicht. 5) Der andere der Söhne, welcher der Mutter zunächst steht, hält zwei.Speere, d. h. den eigenen und des die Schaale tragenden Bruders Speer, in der linken Hand und diese Speere sind hier dieselben Lichtsymbole wie die maurerischen Schwerter. In dem gleichen Sinne strahlen über den Häuptern der Herakliden die Sterne des ewigen Lichtes. Das ewige Licht und Leben




1) Hocker, Stammsagen, S. 140.
2) Furtwängler, a. a. O., S. 333.
3) Furtwängler, a. a. O., S. 412 ff.
4) Auch Creuzer in den Abbildungen zu seiner Symbolik, Taf. XLII theilte eine Abbildung der Vase mit.
5) Furtwängler, a. a. O., S. 415.



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wird errungen durch die Seelenreinigung und deshalb trägt auch einer der Herakliden in der rechten Hand, während die linke die Wasserschaale hält, ein Oelgefäss, hindeutend auf das reinigende Bad der eleusinischen Aufnahmsgebräuche. Weniger treffend möchte es sein, wenn Furtwängler die Speere auf die Beschäftigung der Heldenjünglinge bezieht, es wäre denn diese Beschäftigung der mithrische Kampf für das Licht.

Wie die Fessel bei dem Eintritte des Menschen in den irdischen Leib und bei seinem Austritte aus demselben erscheinet, dort geschmiedet und hier gebrochen wird und zwar in dem Sinne und dem Masse, in welchem schon hier auf Erden der Mensch sich selbst von den Fesseln befreiet und erlöset hat, sein eigener Befreier und Erlöser, ein Mensch oder ein Gottmensch gewesen ist: ähnlich verhält es sich mit dem Spiegel. In dem Spiegel der zerrinnenden Bilder zerrinnt, sich selbst erblickend, zuletzt auch der Mensch und deshalb hält ihm Jama bei seiner Ankunft im Todtenreiche zunächst den tödtlichen Spiegel entgegen, damit er sehe und erkenne, was er in der Sinnenwelt, auf Erden gewesen und demnach im Himmel sein solle und könne. Wohl ihm, wenn die Fesseln zerbrochen sind und er vor seinem Spiegelbilde nicht erschrecken und erbleichen muss. Eine andere Seite des Spiegels des Todtengerichtes ist das Buch des Todtengerichtes, worin die guten und die schlechten Thaten des Verstorbenen aufgezeichnet stehen und das bei seiner Ankunft im Todtenreiche von dem Todtenrichter ihm aufgeschlagen wird, um sein Urtheil darin zu lesen. Das Buch des irdischen Lebens ist somit das Buch zugleich des ewigen Gerichtes und Lebens. Auf dem Prometheussarkophage im Museum Capitolinum zu Rom, 1) vermuthlich aus dem 4. christlichen Jahrhundert und ein Erzeugniss der mit einander verschmolzenen Ansichten des Neu-Platonismus, der Mithrasreligion und des Christenthums, fliegt aus dem Leichname des Verstorbenen die Seele desselben als Schmetterling hervor und setzt sich auf einen Kranz, welchen der bei dem Leichnam mit umgestürzter Lebensfackel




1) Vergl. darüber Furtwängler, a. a. O.. S. 425 ff.



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stehende Todtengenius, der gute Genius des Verstorbenen in der Hand hält. Bei dem Haupte des Leichnams sitzt zugleich die Möra oder Schicksals- und Todesgöttin Atropos und hält die Rolle, das Buch der Lebensthaten des Verstorbenen auf ihrem Schoosse entfaltet; von dem Kranze herab liest dann der Schmetterling in der Rolle seines Lebens seinen Lohn und Strafe, wie auf der von Furtwängler, Taf. 1, Fig. 8 mitgetheilten Abbildung näher zu ersehen ist. In dem Sinne dieses Bildes sagt Johannes in seiner Offenbarung XX, 12:

"Und ich sah die Todten, kleine und grosse, vor Gott stehen, und es wurden Bücher aufgethan; und ein anderes Buch ward aufgethan, welches ist das Buch des Lebens; und die Todten sind gerichtet worden nach Dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken."

Die Vorstellung von der Todes- oder Schicksalsrolle war eine bei den römischen Künstlern der spätern Zeiten ziemlich verbreitete und findet sich auch noch auf andern römischen Kunstdenkmalen, z. B. bei Gerhard, über den Gott Eros, Taf. V, Fig. 9, in der Weise, dass der Todteneros oder Todtengenius in der Schicksalsrolle liest. Wie der Todtenspiegel des Menschen eigene Seele ist, so auch die Todtenrolle, denn in der Seele des Verstorbenen steht unauslöschlich eingeschrieben, was er hier gethan und geworden. 1) Der Tod, welcher die Seele von der Erde hinüberführet, entfaltet auch die Rolle, - ist die Stunde des Gerichtes.

In der nordischen Mythologie ist es der Sonnengott Frô, welcher die Ketten der durch den Winter gefesselten Erde, aber auch der Menschen zerbricht. Nach dem nordischen Mythus befreit Frô einen jeden Gefangenen aus Ketten, was im christlichen Zeitalter in Baiern auf S. Leonhard übertragen worden ist; er wird als der Beschirmer der Reisenden und Gefangenen verehrt, wogegen der Gerettete eine Zeit lang einen oder drei eiserne Ringe trägt, oder seine Ketten selbst zur Kirche des Schutzheiligen bringt und dort als Wahrzeichen seiner Befreiung auf-




1) Vergl. auch Furtwängler, a. a. O., S. 444.



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hängt, weshalb die Leonhardskirchen meist mit eisernen Ketten umzogen sind. 1) Wir dürfen im höhern ethischen Sinne an die Stelle des S. Leonhard Christus setzen, denn er ist der Befreier und Erlöser von allem Uebel und Bösen; durch Befolgung seiner Lehren können die stärksten Ketten und selbst die Ketten des Todes zerbrochen werden. Nicht Christus selbst zerbricht die Ketten, sondern in seiner Lehre hat er dem Menschen nur das Mittel gereicht, womit die Kette zerbrochen zu werden vermag; das Werk der Befreiung und Erlösung muss der Mensch im eigenen Herzen und Geiste vollbringen. Die Kehrseite der befreienden Sonnen- und Jahreskraft des Frô, die fesselnde Kraft des siebenmonatlichen Winters schimmert noch aus dem baierischen Glauben hervor, dass das Siebenjahrgarn besonders zauberkräftig sei. 2) Es wird von Mädchen unter sieben Jahren gesponnen, zur Leinwand verarbeitet und durch darüber gelesene Messen geweiht.

Auch ist noch anzuführen, dass bei den Negern in Benin auf der Westküste von Afrika, um in den Adelstand zu erheben, der König eine Schnur schenkt, die, wie bei den höhern Kasten in Indien, nie wieder abgelegt werden darf. Daran reiht sich, dass Niemand Gewänder trägen darf, bis er vom Könige bekleidet worden ist, was gewöhnlich erst mit der Mannbarkeit geschieht. Um die unbedingte Macht des Königs über seine Unterthanen zu zeigen, heisst es, dass ihm jeder Neugeborne dargebracht wird, damit er ihm als Sklave sein Siegel aufdrücken könne. 3) - In Indien ist der rothe Faden Hochzeitsschnur und Vermählungsring und bei den Esthen wird er der Braut um den Leib gewunden. 4) Die türkische seidene Schnur ist ein Todesurtheil.

Im deutschen Rechte reichte, um symbolisch zu binden, ein Zwirns- oder Seidenfaden hin. 5) Nach dem dem 12. Jahrhundert angehörenden Cölner Hofrecht wurde ein Dienstmann des Erzbischofs mit einem blossen Fadenzug




1) Quitzmann, die heidnische Religion der Baiwaren, S. 92.
2) Quitzmann, a. a. O., S. 247.
3) Ausland für 1860, Nr. 8, S. 172 a.
4) Rochholz, Schweizersagen aus dem Aargau, II. S. 276 unten.
5) Grimm, Rechtsalterthümer, S. 182 ff., S. 203 u. 810.



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eingesperrt. Das Bischofs- und Dienstmannenrecht von Basel, in deutscher Aufzeichnung des 13. Jahrhunderts, herausgegeben von Wackernagel, Basel 1852, bestimmt in §. 12: "Unde swenne ein gotshus dienstmann eins bischofs hulde verliusit, als ober wider in unde sin gotshus iemanne hulfe, oder mit andern redelichen sachen, so sol er sich ze bezzerunge, unz daz er genade vindet, entwürten vür gevangen in den roten turn ze Saint Uolriche, unde sal der scholteizze einen siden vaden mit wasse dar vür spannen." Wackernagel bemerkt noch S. 38 zu dieser Stelle, dass schon Pausanias 8, 10 von einem Tempel Neptuns bei Mantinea berichte, den ein umhergezogener Wollenfaden gegen Entheiligung geschützt habe. Wenn in Bacharach Jemand, der zum Schöffen gewählt worden, sich der Annahme weigert, so sall der scholtisse zweene scheffene of me zu ieme nemen und sullen deme einen vaeden vur sin huis legen, und as ducke he of sin gesinde in dat hus of andere sine gude giengen, as ducke sint si in hoeste buesse gevallen. 1) - Gebannte Grundstücke wurden durch einen darum gezogenen Faden gehegt. Im Heldenbuch sind die Rosengärten mit seidenen Fäden umgeben. Crimhilt:

"sie het ein anger weite init rosen wol bekleit,
darumb so gieng ein maure, ein seiden faden fein."

Nach Grimm waltet dabei etwas Abergläubisches, denn auch in den dänischen Volksliedern binden die Helden, um sich festzumachen, rothe Seidenfäden um ihre Helme. Die Parsen, wenn sie einen Todtenacker (dakhma) anlegten, schlugen in vier Ecken vier grosse Nägel ein und zogen eine Schnur von 100 goldenen oder baumwollenen Fäden drei Mal herum. In Schottland schützt der seidene Faden gegen Hexen. - Die Bamberger Kirche verwahrt den Seidenfaden, mittelst dessen die Kaiserin Kunigunde die vier obersten Reichsämter zu Lehen des Domstiftes machte, dem Domstifte durch das Band gleichsam aneignete; die damit zugleich verbundenen vier Städte sind Prag, Amberg, Wittenberg und Brandenburg. 2) Auch




1) Grimm, Weisthümer, II. S. 220.
2) Rochholz, a. a. O.



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die Gerichtsstätten und der Kreis des Zweikampfes wurden mit einem Faden umspannt und geschützt, ähnlich wie, auch heute noch oft mit Fäden und Stricken Plätze eingefasst und abgegrenzt werden. Auch schliessen sich hieran die Ketten, welche während des Gottesdienstes vor den katholischen Kirchen, z. B. zu Zug, über die Strasse gespannt wurden, um den Verkehr und den Lärmen zu hindern. FrevIer, welche in alten Zeiten das Gericht stören und verjagen wollten, zerschnitten die Schnur und brachen die dieselbe tragenden und haltenden Haselstangen, d. h. warfen die Gerichtsschranken nieder, brachen den Gerichtsbann. Auch die an einer grössern oder kleinern Schnur, einem Bande zu tragenden heutigen Orden dürfen den Fesseln verglichen werden. - Das berüchtigte Enziloch im Entlibuch, in welcher der Aargauer Stiefeli gebannt ist, wird durch einen an einem Seidenfaden herabhangenden Fels gesperrt. 1) Nach einer Sage bei Rochholz (Nr. 245) füttert am obern Theile des Reuslaufes ein kleines Mädchen einen Ochsen täglich, bis es sieben Jahr alt ist; dann führt es an einem Seidenfädchen den Ochsen in die Berge, wo ein sehr gefährlicher Ziegenbock hauset, um diesen zu bekämpfen; der Ochs und der Ziegenbock bleiben todt auf dem Kampfplatze, worauf aus den Hörnern des gefallenen Ochsen Alphörner gemacht werden, die der deutsche Kaiser dem Hirtenvolke mit Silber beschlagen lässt. Von diesem Kampfe soll sich das Landeswappen der Urner herschreiben. In ähnlicher Weise tödtet ein weisser Ochs, welcher zuvor sieben Jahr lang nicht aus dem Stall gekommen war, den feurigen Drachen unter dem Drachenstein von Rohrdorf im Aargau. 2) Zu Cöln im Dome bewahrte man ein Jagdhorn Karls des Grossen, welches alle sieben Jahre dem Volke unter andern Reliquien vorgezeigt wurde. - Rochholz, a. a. O., II. S. 17, erinnert hier an Wuotan mit dem Giallarhorne, von dessen Tone die ganze Welt wiederhallt.

Wenigstens einiger Massen mit dem Symbole der Fessel verwandt ist die alte Sitte, einen Ring oder ein




1) Rochholz, a. a. O., II. Einltg. S. XXXVII u. S. 111.
2) Rochholz, a. a. O., Nr. 234.



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Geldstück zwischen zwei Ehegatten, zwischen Vater und. Sohn, zwischen zwei Freunden in zwei Stücke zu brechen oder zu zerschneiden und jedem Theile ein Stück zum Zeichen der Treue und der Wiedererkennung durch die Wiedervereinigung der beiden Stücke zu übergeben. Eine, hierauf bezügliche Sage der Grafen zu Halwil theilt Rochholz Nr. 341 mit. Auch in Gräbern werden solche Ring- und Geldtheile gefunden, da die Liebe und Treue selbst das Grab und den Tod überdauern sollte.

Zufolge Pausanias 3, 16, 7 nannte das Alterthum die Artemis die Weidengefesselte, weil sie in einem Weidenbusche aufgefunden worden ist, der ihr Bild mit seinen Zweigen ganz umhüllend in aufrechter Stellung erhalten hatte.